Die Tische sind festlich eingedeckt. Das Personal hat sich schmuck gemacht. Das Bier steht gut gekühlt. Das Spanferkel wird über dem offenen Feuer allmählich knusprig. Die Restaurants der Stadt präsentieren sich von ihrer besten Seite. Schließlich ist die „Nacht der Santiagueros“, ein Familienfest, das jedes Wochenende auf der für diese Zeit für jeglichen Autoverkehr gesperrten Plaza de Marte, dem längst im Zentrum der historischen Altstadt von Santiago de Cuba gelegenen früheren Hinrichtungsplatz, stattfindet.
Vater, Mutter, Kind – alle herausgeputzt – strömen auf den Platz. Die Kinder zieht es magisch zu Karussell, Hüpfburg, Zuckerwatte, Wippen und den von Ziegen gezogenen kleinen Wagen. Die Frauen studieren die Angebote der Restaurants. Die Väter greifen unauffällig in die Hosentaschen und zählen die Scheine.
Zwei unterschiedliche Menüs offeriert beispielsweise die eigentlich am Hafen ansässige Cerveceria Puerte del Rey: Hühnchen oder Schweinefleisch für 130 Peso, dazu Reis mit Bohnen, Salat und zwei Bier – die Einzelpreise sind sorgsam aufgelistet, der Endpreis nicht. Keila greift zum Handy und tippt die Zahlen in den Kalkulator. Ein Menü kostet also 1.180 Peso. Die 25jährige tippt erneut Zeichen und Zahlen. Geteilt durch 129 sind das rund neun Euro. Der sie begleitende Italiener rechnet einen anderen Kurs, den des Schwarzmarktes. Da bekommt er für den Euro zwischen 185 und 200 Peso. Der Preis für das Menü sinkt auf etwas mehr als sechs Euro. Die beiden nehmen Platz, bestellen Cocktails, die ebenfalls nicht mal einen Euro kosten.
Ja, es läßt sich auf Kuba wieder richtig leben, seit die Corona-Krise überwunden, der Lockdown aufgehoben und vor allem – seit die kommunistische Regierung ihre lange angekündigte Währungsreform umgesetzt hat, die nach Meinung der meisten Kubaner völlig überflüssig war und zudem zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt durchgeführt wurde. Voraussetzung für das gute Leben sind allerdings regelmäßige Zuwendungen aus dem Ausland.
Der einst als Dollarersatz eingeführte konvertible Peso (Cuc) – eine Phantasiewährung ähnlich den Forumschecks der DDR – gilt seit dem 1. Januar 2021 nicht mehr. Übriggeblieben ist der nationale Peso (Moneta national) sowie ein Kartengeld namens „Moneda Libremente Convertible“ (MLC), das ebenfalls an den Dollar gekoppelt ist und mit dem in Devisengeschäften bezahlt werden kann, solange das jeweilige Konto aus dem Ausland mit Dollar, Euros oder Schweizer Franken aufgeladen ist. Die einzig spürbare Änderung dabei: Die MLC-Supermärkte sind immer häufiger so leer gefegt wie früher die normalen staatlichen Geschäfte.
Zudem sind seit der Währungsreform die Preise auf der Insel geradezu explodiert. Kostete ein Waffeleis früher einen Peso, so werden derzeit mindestens 20 aufgerufen. Ein Pfund Schweinefleisch kostet zwischen 380 und 460 Peso, die Anderthalb-Liter-Flasche Tu-Cola nicht mehr 25, sondern 450 Peso. Nach Angaben der Regierung betrug die Inflation 2021 77 und voriges Jahr 39 Prozent, ausländische Beobachter sprechen allerdings von rund 200 Prozent allein im vergangenen Jahr.
Die Regierung sollte von den emsigen Kleinhändlern lernen
Völlig kollabiert ist der staatliche Lebensmittelhandel. Nur äußerst selten gibt es Reis, Zucker, Salz, Bohnen und fast nie Hühnchen. Der Staat hat zu tun, wenigstens den bescheidenen Warenkorb, den es noch immer auf Lebensmittelkarte (Libreta) gibt, irgendwie zu füllen. Dieser reicht aber eher für eine als für zwei Wochen, geschweige denn wie vorgesehen für einen ganzen Monat. Der Regierung fehlen die Devisen für den Import, und von den eingeplanten Summen wurden auch noch Millionen abgezweigt und in die brachliegende Landwirtschaft investiert, ohne daß sich dort etwas geändert hat. Noch immer muß Kuba 70 Prozent seiner Lebensmittel importieren.
Daß die Kubaner trotzdem überleben, verdanken sie ihrer Schlitzohrigkeit und den Exilanten. 300.000 sind in den zurückliegenden zwölf Monaten in die USA geflüchtet, haben sich zu der Millionen zählenden kubanischen Diaspora hinzugesellt.Nach offizieller kubanischer Lesart sind sie aber zeitlich begrenzt ausgereist, und daher weiterhin Staatsbürger, was die zurückgebliebenen Angehörigen ausnutzen, indem sie deren Lebensmittelkarten mitnutzen.
Ein ganzes Land lebt parasitär – und das seit dem Sieg der Revolution 1959: erst vom Reichtum der geflüchteten Ober- und Mittelschicht, dann von den Hilfssendungen der sozialistischen Bruderstaaten, anschließend von den Auslandsüberweisungen der Emigranten, den Ölspenden aus Venezuela und den Schuldenerlässen der internationalen Gemeinschaft. An allen Miseren ist aber nicht die sozialistische Planwirtschaft schuld, sondern die USA mit ihrem Wirtschaftsembargo. Und das Volk murrt zwar, wehrt sich aber nur durch permanenten Bummelstreik, weil es zumindest seit 1990 nur den Mangel in allen Bereichen kennt: „No hay“ – kein Hühnchen, kein Öl, kein Reis, kein Wasser, kein Strom, keine Zukunft, keine Hoffnung.
Die Devisenüberweisungen der Exilkubaner dürften aktuell die wichtigste Einnahmequelle des Staates sein, der deswegen wegsieht, wenn überall fleißig illegal gehandelt wird – nicht nur mit Lebensmitteln, sondern auch mit Motorrädern, Autos, Häusern und vor allem der neuesten Mode. Um diese zu beschaffen, reisen Kubaner in Nachbarländer wie Haiti oder Nicaragua, um sich dort billig mit allem einzudecken, was sich mit satten Aufschlägen auf der Insel verkaufen läßt.
Eigentlich sollte die Regierung von den emsigen Kleinhändlern lernen. Diese zeigen dem Staat, wie Wirtschaft nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage funktioniert. Denn die Gewinnspanne ist auch für die kleinen Kapitalisten so knapp, daß sie genau kalkulieren müssen, soll das Geld für die nächste Reise, den nächsten Einkauf und das Überleben reichen.
Die beschränkte Öffnung des Außenhandels für den Privatsektor hat dazu geführt, daß die Vielfalt des angebotenen Büchsenbiers gestiegen ist und der Preis gesunken ist. Importbier – egal ob aus den Niederlanden, Deutschland, Spanien oder Brasilien – ist mit ab 150 Peso für die 0,3-Liter-Dose fast um die Hälfte billiger als das in den staatlichen Restaurants angebotene Cristal aus der einst von der DDR aufgebauten Brauerei in Holguin. Und selbst Rum – vor einem Jahr Mangelware auf der Insel – gibt es wieder reichlich und preiswert im Straßenhandel.
Daß dem so ist, dafür sorgt beispielsweise Angel. Der 45jährige fährt wöchentlich aus Santiago in die Provinz und wieder zurück. Im Gepäck hat er dann zwölf Anderthalb-Liter-Flaschen „Gran Caribe“, die er aus irgendwelchen dunklen Quellen bezieht und zum Stückpreis von 600 Peso erwirbt. Mit einem Aufschlag von 400 Peso pro Flasche gibt er sie an Zwischenhändler ab, die vom Endverkäufer letztlich 1.200 Peso verlangen.
Angel bleiben nach Abzug des Eigenbedarfs und der Fahrtkosten wöchentlich 3.000 Peso Gewinn, also etwas mehr als der durchschnittliche Monatsverdienst eines in der staatlichen Gastronomie oder bei der Eisenbahn arbeitenden Kubaner. Im Privatsektor sieht das schon wieder anders aus. Diana beispielsweise ist in einem privaten Restaurant angestellt und erhält von ihrem Arbeitgeber gar keinen Lohn. Sie kellnert immer zwei Tage von morgens acht bis nachmittags sechs Uhr und hat anschließend zwei Tage Pause.
Der Deal ist, daß sie die Trinkgelder behalten darf, und das sind in dem gut frequentierten Restaurant mit Faßbierausschank am Fußgängerboulevard immerhin durchschnittlich 1.000 Peso am Tag. Mit 15.000 Peso kommt die alleinstehende Mutter zweier halbwüchsiger Kinder gut über die Runden.
Die USA bleiben der wichtigste Lebensmittellieferant
Während in den staatlichen Geschäften die Angestellten vor sich hindösen und nur noch das Nichts verwalten, brummt nebenan im privaten Wohnzimmer- oder Garagengeschäft der Umsatz. Verkaufen, Kaufen und Verkaufen ist aktuell die Hauptbeschäftigung der Kubaner – von einzelnen Zigaretten bis frisch sanierten Oldtimern.
Derweil bleibt das Hauptproblem des Staates, seine Untertanen mit Strom und Benzin zu versorgen. Besonders hier macht sich das US-Embargo tatsächlich bemerkbar. Den Kommunisten fällt es zunehmend schwerer, Ersatzteile für die maroden Kraftwerke zu beschaffen, um Wartungsfristen halbwegs einhalten zu können. Die Folge sind stundenlange Stromausfälle. Und auch der Treibstoff ist knapp, seit die USA ihre Häfen für Reedereien sperren, deren Schiffe Kuba ansteuern. Die Folge ist, daß die regierende Kaste immer mehr den Schulterschluß mit China und Rußland sucht, die mit Schuldenerlassen und Tankschiffen reagieren.
Die USA bleiben lediglich wichtig als Lebensmittellieferant – hier hat die US-Farmer-Lobby dafür gesorgt, daß die Wirtschaftsblockade löchrig wie ein Schweizer Käse geworden ist – und als ständig an den Pranger gestellter Verursacher des Embargos. Vergessen ist die Ermahnung von Raul Castro, der inzwischen den Titel „Führer der Revolution“ trägt und immer noch Armeegeneral ist, nicht für alle auf der Insel auftretenden Rückschläge und Engpässe die Yankees verantwortlich zu machen, sondern das eigene System zu reformieren.
Castros Nachfolger als Staatspräsident, Miguel Díaz-Canel (63), gerade für weitere fünf Jahre von der Nationalversammlung bestätigt, weiß, daß er auf einer tickenden Zeitbombe sitzt. Als größte Herausforderungen seiner zweiten Amtszeit hat der Erste Sekretär Kommunistischen Partei Kubas (PCC) die Inflation sowie die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten, Nahrungsmitteln und Elektrizität genannt. All diese Engpässe können jederzeit wieder zu spontanen Protesten führen, wie im Juli 2021 in Havanna oder am 5. Mai dieses Jahres in Guantanamo.
Die Unzufriedenen, die nichts zu verlieren haben, und nicht der sich ausbreitende Kleinkapitalismus, dessen Protagonisten natürlich wissen, daß sie nur im sozialistischen Mangelsystem so erfolgreich sein können, sind die Hauptgefahr für die Staatsmacht. Der Ausbruch von Unruhen ist eigentlich so überfällig wie das nächste große Erdbeben in Santiago de Cuba, das statistisch gesehen alle 100 Jahre stattfindet.
Und der Tourist? Soweit er nicht mit dem eigenen Mietwagen unterwegs (und auf Spritsuche) ist, wird er von diesen Problemen nur wenig mitbekommen. Selbst wenn er nicht schwarz tauscht, ist für den Selbstversorger Kuba aktuell ein preiswertes Reiseland mit niedriger Kriminalität und voller lebenslustiger Menschen, die noch immer neugierig darauf sind, Fremde kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen einen schönen Abend zu verbringen: in der Casa de la Trova im Herzen Santiagos beispielsweise, wo sei hundert Jahren Musiker die ewig gleichen sentimentalen Lieder singen oder in einer der Diskos, wo kubanischer Reggaeton erklingt, dessen Texte genauso sexuell aufgeladen sind wie die Bewegungen der Frauen und Männer auf der Tanzfläche.
Das Handy der kleinen Freundin des Italieners beginnt plötzlich zu fiepen. Die junge Frau schaut auf das Display, ihre Augen beginnen zu leuchten und sie reicht es schnell dem Mann: „Das mußt du dir anschauen!“ Der stellt sein Cocktailglas ab. Was ist los? Revolution in Havanna, Aufstand in Guantanamo? Nein, ein Goldkettchen entzückt sie. Angeboten auf der kubanischen Kleinanzeigenseite für schlappe 17.000 Peso.