Sie jubeln, tanzen und singen, sie klatschen, schwenken die rote Fahne mit Halbmond und Stern und fahren laut hupend im Auto umher: Daß der am Sonntag wiedergewählte türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) in Deutschland über eine treue Anhängerschaft verfügen, war in Berlin, Hamburg, Duisburg und anderen (Groß-)Städten nicht zu überhören und übersehen. Im ganzen Land machten zahlreiche Türken keinen Hehl aus ihrer Freude über den Wahlausgang am Bosporus, der zuweilen an den Jubel nach siegreichen Fußballturnieren erinnerte. Nicht überall blieb es dabei friedlich. In Mannheim beispielsweise kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern eines Autokorsos und Passanten, Polizisten wurden mit Gegenständen beworfen.
Laut der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu votierten knapp zwei Drittel der türkischen Wähler in Deutschland für Amtsinhaber Erdoğan, die Wahlbeteiligung unter den rund 1,5 Millionen Berechtigten in „Almanya“ lag bei etwa 50 Prozent. Hätte sich der von Anhängern als „Vater aller Moslems“ Verehrte nur seinen in Deutschland lebenden Landsleuten zur Wahl gestellt, wäre er bereits im ersten Wahlgang gewählt worden. Hier erhielt der nun in der Stichwahl siegreiche türkische Präsident bereits im ersten Anlauf durchschnittlich ein Ergebnis von 65 Prozent, in Teilen des Ruhrgebiets sogar deutlich mehr als 70 Prozent. Relativ schwach schnitt er in Berlin ab, wo auch eine stattliche Zahl linker Türken sowie Kurden wohnen.
In Teilen des Ruhrgebiets erreichte Erdogan mehr als 70 Prozent
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne), der aus der alevitischen Minderheit stammt, ließ seiner Empörung über den regimetreuen Jubel freien Lauf. Die Autokorsos hierzulande seien keine Feiern harmloser Anhänger eines etwas autoritären Politikers. „Sie sind eine nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie und Zeugnis unseres Scheiterns unter ihnen. Übersehen geht nicht mehr“, schrieb Özdemir auf Twitter. Umgehend verbat sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, solches Wähler-„Bashing“.
Was aber sind die Gründe für diese überproportional große Neigung unter in Deutschland lebenden Türken zur AKP und zu Erdoğan? Studien und Untersuchungen führen mehrere Gründe an. Der vielleicht am nächsten liegende ist die regionale Herkunft. Viele der Türken, die im Laufe der Jahrzehnte vor allem als Gastarbeiter in die Bundesrepublik kamen und dann ansässig wurden, stammen aus Zentralanatolien. Diese eher ärmere und eher traditionell geprägte Region ist eine der Hochburgen Erdoğans. Demgegenüber hat die kemalistische CHP des unterlegenen Kemal Kilicdaroglu am meisten Rückhalt im Westen des Landes und in den größeren Städten.
Doch entscheidender sind politische Motive. Während die türkischstämmigen deutschen Staatsbürger bei Wahlen hierzulande mehrheitlich auf linke Parteien – hauptsächlich die SPD oder die Grünen – setzen, stimmen die Türken in Deutschland oder die rund 290.000 Doppelstaatsangehörigen in ihrem Herkunftsland eher für die deutlich rechtere AKP. Was auf den ersten Blick etwas widersprüchlich wirkt, ist unter identitätspolitischen Aspekten vollkommen nachvollziehbar. Die betreffenden Wähler entscheiden in erster Linie danach, wessen Programm ihren Interessen als Personen mit türkischem Einwanderungshintergrund oder als Mitglieder der türkischstämmigen Diaspora in Deutschland am meisten entspricht.
Das sind in der Türkei die Parteigänger Erdoğans, die einen großen Teil des türkischen Staats, der Wirtschaft und der Medien tragen, denen an einem starken Band zum Herkunftsland sowie an einem Festhalten an der türkischen Identität sehr gelegen ist und die sich in Ankara auch ausdrücklich als Interessenvertreter der Auslandstürken präsentieren. In Deutschland wiederum sind es die linken Parteien mit ihrem migrationsfreundlichen Kurs, die in den Eingewanderten stets zuerst die vor „Diskriminierung“ durch die Merheitsgesellschaft zu schützenden Menschen sehen.
In einer 2020 erschienenen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) werden weitere Gründe dargelegt. So habe sich in der türkischen oder türkischstämmigen Gemeinschaft eine rege Vereinskultur etabliert, die wiederum im vergangenen Jahrzehnt mehr und mehr von AKP-nahen Organisationen durchdrungen worden ist. Etwa 20 Prozent der türkischen Einwanderer in Deutschland seien Mitglied eines entsprechenden Vereins. War diese Vereinslandschaft zunächst noch eher nach landsmannschaftlichen Gesichtspunkten oder als Arbeitervertretung organisiert, setzte ab Ende der siebziger Jahre stärkere Politisierung und Ideologisierung ein. Zeitgleich nahm auch Ankara immer mehr Einfluß auf diese Verbände. Die wiederum fokussierten sich ab den achtziger und neunziger Jahren auf das Leben der türkischen „Community“ in Deutschland, weil spätestens ab da klar war, daß man sich auf einen dauerhaften Verbleib in der Bundesrepublik einrichtete.
Mit Blickrichtung darauf war die Stoßrichtung von Erdoğan und seiner AKP stets: Integration ohne Assimilierung – bei gleichzeitiger Stärkung der Bindung an das Herkunftsland. Und so reformierte das AKP-regierte Ankara den Jahren 2008 und 2012 das Wahlgesetz für die im Ausland lebenden Landsleute. Seitdem darf jeder Inhaber eines türkischen Passes seine Stimme im Wohnsitzstaat in einem dort eingerichteten Wahllokal abgeben. Zuvor war eine solche Stimmabgabe nur auf türkischen Flughäfen oder Grenzposten möglich. Die Wahlbeteiligung der Auslandstürken stieg im Laufe dieser Jahre von knapp unter 20 auf mittlerweile über 50 Prozent. Rund die Hälfte aller im Ausland registrierten türkischen Wähler lebt in Deutschland.
Schon bei der Wahl 2015 erhielt die AKP dank der Stimmen von Auslandstürken drei zusätzliche Sitze im Parlament. Allerdings erhielt in Deutschland auch die linksgerichtete prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) einen höheren prozentualen Stimmenanteil als in der Türkei.
Erdoğans AKP setzt vor allem gezielt auf die Jugend. Die Nachkommen türkischer Einwanderer in Deutschland sollen in ihrem Zugehörigkeitsgefühl zum Herkunftsland ihrer Vorfahren gestärkt werden.
Demographie spielt eine nicht unerhebliche Rolle
Dabei spielt in den Überlegungen der AKP-Funktionäre die demographische Entwicklung der Türkischstämmigen in Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle: Denn von ihnen sei über ein Viertel zwischen18 und 30 Jahre alt – und zum überwiegenden Teil im Wohnsitzland sozialisiert. Gleichzeitig nimmt der Anteil derer, die in der Türkei geboren wurden, immer weiter ab. Um die Beteiligung an den Wahlen im Herkunftsland zu steigern, sei es daher von besonderer Bedeutung, bei den Jüngeren die Identität und das Zugehörigkeitsgefühl zur Türkei zu bewahren.
Der seinerzeitige Leiter der regierungsnahen Migrantenorganisation Union Internationaler Demokraten (UID), Safer Sirakaya, hatte das schon vor fünf Jahren veranschaulicht: „Wir legen besonderes Augenmerk darauf, daß sich unsere Bürger im Ausland, und insbesondere die Jugend, nicht von unserer Kultur entfernen.“ Eines der für dieses Ziel vorgesehenen Projekte war die Einladung an „100.000 junge Menschen in unser Land, um sie in unsere Kultur und Geschichte einzuführen“. Das ist besonders deshalb bemerkenswert, da ohnehin viele Türken oder Türkeistämmige einen nicht unerheblichen Teil des Jahres in der Türkei verbringen.
Für viele Türken in Deutschland steht Erdoğan immer noch für politische Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung und gewachsenen Wohlstand am Bosporus – die aktuelle Wirtschaftskrise und die grassierende Inflation hin oder her. Neben dieser sozioökonomischen und materiellen Komponente gibt es vor allem emotionale Gründe für die breite Unterstützung des zunehmend autoritär herrschenden Präsidenten. Genährt von dessen Wir-sind-wieder-wer-Rhetorik, seinem selbstbewußten Auftreten auf internationalem Parkett sowie der zuweilen aggressiven Außenpolitik geht ein „starkes Gefühl des Stolzes“ aus, wie es in der SWP-Studie heißt. Dies werde „durch die expansive Diasporapolitik im Alltag spürbar bestätigt“.
Hinzu kommt: In dem Maße wie die in Deutschland lebenden Türken via Satellit oder Internet die regierungsnahen türkischen Medien konsumieren, werden sie in ihrer Haltung pro Erdoğan noch bestärkt. Annähernd 90 Prozent der türkischen Medienlandschaft sind finanziell oder politisch von der AKP-Regierung abhängig.
Ein weiterer emotionaler Faktor, der zur Wahl Erdoğans beiträgt, „scheint die Angst zu sein, soziale und politische Errungenschaften wieder zu verlieren, die unter der AKP-Regierung erworben wurden“. In der langjährigen faktischen Ein-Parteien-Herrschaft seien „die Grenzen zwischen der regierenden Partei und den staatlichen Institutionen nahezu verschwunden“. Für Erdoğan zu sein bedeutet somit in erster Linie: stolz, ein Türke zu sein.