Rußland-Komplex. Mit ideengeschichtlich weit gespannten Studien zur jüngeren russischen Geschichte, vor allem aber zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen der Oktoberrevolution und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat sich der Publizist Gerd Koenen neben Karl Schlögel in die erste Reihe der auch international beachteten Rußland-Experten geschrieben. Verglichen mit diesen Arbeiten, unter denen sein „Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten“ (2005) herausragt, fällt seine jetzt unterm Eindruck des Ukraine-Krieges zusammengeschusterte Aktualisierung doch erheblich ab, weil er die früher gewahrte wissenschaftlich-äquidistante Position gegenüber Russen und Deutschen aufgibt und als der „Atlantiker“ agitiert, der er seit den frühen 1990ern eigentlich ist. Folglich macht er aus seinem Herzen keine Mördergrube mehr und malt ein schlichtes geopolitisches Fresko in Schwarz-Weiß, als gälte es, einen Auftrag des Pentagon zu erfüllen: Rußland sei nie ernstlich bedroht worden, niemand habe das Riesenreich einkreisen oder mit „Farbenrevolutionen“ und „Open-Society-Funds“ destabilisieren wollen. Das seien alles nur „paranoide Behauptungen“ Putins, die verdecken sollen, daß Rußland an einem „Versailles-Komplex“ leide, der erst geheilt sei, wenn die „geopolitische Katastrophe“ (Putin) des Zerfalls der Sowjetunion wieder „rückgängig“ gemacht worden sei. (wm)
Gerd Koenen: Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Rußland. Verlag C. H. Beck, München 2023, gebunden, 560 Seiten, Abbildungen, 34 Euro
Putin. Wenn ein Buch von der taz bis zur Neuen Zürcher Zeitung gleichermaßen gelobt wird, hat der Autor wohl den richtigen Ton angeschlagen. Michael Thumann, Außenpolitischer Korrespondent der Zeit in Moskau, widmet sich mit langjähriger Erfahrung den Problemen Rußlands. So beschreibt er den Zerfall der Sowjetunion, die zaghaften Demokratieversuche der 1990er Jahre sowie die verschiedenen Phasen seit der Ägide Putins. Der ehemalige KGB-Agent habe den Sieg des westlichen Liberalismus nie verkraftet und sei auf Rache gesinnt. Dabei hätten ihn deutsche Politiker aller Parteien jahrelang unterschätzt, teilweise hofiert. „Er pfiff auf Deutschland und hielt zu Rußland“, schreibt Thumann über Gerhard Schröders Haltung nach Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022. Neben der Dichte an Informationen und dem Mut zur Meinung sind es die persönlichen Anekdoten aus dem Moskauer Alltag, die das Buch spannend machen. So das Gespräch mit einem langjährigen Freund, welcher der Kreml-Propaganda verfallen ist, sowie die persönlichen Eindrücke von Putin aus einem Interview von 1999. (st)
Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. C.H. Beck, München 2023, gebunden, 288 Seiten, 25 Euro