© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/23 / 26. Mai 2023

Die Keimzelle der Dissidenz
Franz Kafka und die Entfremdung im Sozialismus: Eine wegweisende Literatur-tagung im tschechischen Schloß Liblitz im Mai 1963
Thorsten Hinz

Schon der erste Satz aus Franz Kafkas „Prozeß“ konnte den Parteifunktionären im Ostblock kalte Schauer über den Rücken jagen: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines morgens verhaftet.“ Nicht wenige waren in den dreißiger, vierziger und frühen fünfziger Jahren in die Mühlen des stalinistischen Terrors geraten und völlig grundlos als Volksfeinde, westliche Agenten oder Zionisten angeklagt und verurteilt worden. Der Schrecken hallte in den Überlebenden nach.

Doch nicht die Retraumatisierung war ihr Hauptproblem mit Kafka, sondern daß sein Werk sich als Parabel über rote Diktaturen lesen ließ und imstande war, ihre Legitimation zu erschüttern. Kafkas Grundthema: die Entfremdung, das Ausgeliefertsein des Menschen an undurchschaubare Mächte, die ihn nach Belieben zermalmen, galt als Kennzeichen überwundener Ausbeutergesellschaften. Der Marxismus-Leninismus hatte die „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ in der Geschichte erkannt, und deshalb war die Freiheit im Sozialismus real. Kafka-Leser aber würden gefährliche Vergleiche anstellen, ins Grübeln geraten und am Ende das System anzweifeln. Also war Kafka im sozialistischen Lager lange ein Tabu. 

Die Kafka-Tagung marxistischer Literaturwissenschaftler am 27. und 28. Mai 1963 in Schloß Lib­litz (Liblice) bei Prag bedeutete einen Tabubruch. Organisiert hatten sie Eduard Goldstücker und Paul Reimann, beide ehemals überzeugte Kommunisten, die 1951/52 in den Sog des berüchtigten Slánský-Prozesses geraten waren. Goldstücker war 1952 in einem Schauprozeß zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden und mußte bis zu seiner Rehabilitierung 1955 Zwangsarbeit in einer Uranmine leisten. Reimann war genötigt worden, als Belastungszeuge aufzutreten. Ein anderer prominenter Teilnehmer war der österreichische Schriftsteller Ernst Fischer, der den „Großen Terror“ in Moskau miterlebt hatte und Kafka bescheinigte, ihn „mit beunruhigender Präzision“ vorweggenommen zu haben. Aus der DDR waren einige jüngere Wissenschaftler angereist, die sich strikt auf philologische Fragen beschränkten und damit isoliert blieben. Die anderen deuteten Kafka explizit politisch und brachten ihre Lebensgeschichten mit ein. Anwesend war auch Anna Seghers, die Prinzipalin der DDR-Schriftsteller und Verehrerin Kafkas, die sich an der Diskussion aber nicht beteiligte.

Die Tagung erregte internationales Aufsehen durch den Aufsatz „Kafka und der Prager Frühling“, den der französische Philosoph Roger Garaudy anschließend in der prokommunistischen Literaturzeitschrift Les Lettres françaises veröffentlichte. Garaudy hatte ebenfalls an der Tagung teilgenommen und dort referiert. Er betonte die universelle Bedeutung Kafkas und forderte eine Erneuerung des Marxismus. Denn die Entfremdung sei im Sozialismus nicht beendet, nur der Kampf dagegen erhielte „eine neue Form und eine reale Wirklichkeit“. Er verwies auch auf den „Personenkult“ um Stalin und seine Folgen, die bis in die Gegenwart reichten. 

Initialzündung für Reformprozeß des späteren „Prager Frühlings“ 

Der schärfste Widerspruch kam aus der Sowjet-union und der DDR. Umgehend wies der Kulturfunktionär Alfred Kurella in der Wochenzeitung Sonntag Garaudys Überlegungen zur Entfremdung und zum Stalinismus zurück. Bizarre Ironie: Kurella hatte in den 30er Jahren als Emigrant in Moskau den Terror miterlebt; sein jüngerer Bruder war erschossen worden. Doch ganz ließ der entwichene Geist sich nicht mehr einfangen. 1965 erschien in der DDR eine Kafka-Auswahl, die von Klaus Hermsdorf, einem Teilnehmer an der Liblitz-Konferenz, herausgegeben wurde.

In der Tschechoslowakei erwies die Tagung sich als Initialzündung. Die Schriftstellerin Lenka Reinerová meinte rückblickend, daß sie „doch irgendwie der Anfang der Reformbewegung war“. Auf dem Schriftstellerkongreß im Juni 1967 in Prag wurde massive Kritik am herrschenden Regime geäußert. Die Reformkräfte in der Kommunistischen Partei setzten daraufhin einen Prozeß in Gang, der als „Prager Frühling“ bekannt wurde. Im Juni 1968 unterzeichneten siebzig prominente Intellektuelle und Wissenschaftler das „Manifest der 2000 Worte“, in dem sie eine Beschleunigung der Reformen verlangten. Zehntausende Bürger unterschrieben ebenfalls. Die sowjetische Invasion im August 1968 beendete alle Hoffnungen auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Eduard Goldstücker flüchtete ins Exil. 

Die Kafka-Konferenz wurde nun als politischer Sündenfall gebrandmarkt. Das SED-Zentralorgan Neues Deutschland zürnte: „Ein wichtiger Markstein für den wachsenden Einfluß revisionistischer und bürgerlicher Ideologie war die Kafka-Konferenz im Mai 1963. Hier trat der Revisionismus in der ČSSR zum erstenmal massiert und offen in Erscheinung.“ Kulturminister Klaus Gysi legte nach und stellte die Frage: „Faust oder Gregor Samsa?“ Angeblich hatte die Figur aus Kafkas „Verwandlung“ Goethes „Faust“ im Gedächtnis des sozialistischen Menschen verdrängen sollen. Gysi übte indirekt Selbstkritik. Er war 1965 Leiter des Aufbau-Verlags gewesen, der die Kafka-Ausgabe herausgebracht hatte. So geht sozialistische Dialektik. Erst in den 80er Jahren gab es in der DDR eine Kafka-Renaissance.

Zehn Jahre nach der Konferenz veröffentlichte Anna Seghers die Erzählung „Die Reisebegegnung“, in der sie Kafka in einem Prager Café mit Gogol und E.T.A. Hoffmann – die in der DDR als Klassiker anerkannt waren – zusammentreffen läßt. Es war ein leiser Versuch, Kafka zu rehabilitieren. Diese von Seghers genutzte Ästhetik der verschwiegenen Mitteilung steht heute vor einer neuen Konjunktur: als ein Mittel, sich der Meinungsdiktatur zu entziehen.