© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/23 / 26. Mai 2023

Überparteiliche Empörung
Die Hinrichtung Albert Leo Schlageters markiert einen Höhepunkt des französischen und belgischen Besatzungsterrors im Ruhrgebiet 1923
Karlheinz Weißmann

Am 26. Mai 1923 wurde Albert Leo Schlageter auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf von einem französischen Peloton erschossen. Ein Vorgang, der heute kaum noch jemandem etwas sagt, aber von den Zeitgenossen als dramatischer Einschnitt im Verlauf des „Nachkriegs“ wahrgenommen wurde. Mit „Nachkrieg“ bezeichnete man die Zeit zwischen der Novemberrevolution 1918 und dem letzten Versuch einer Gegenrevolution Ende 1923. Dazwischen lagen fünf Jahre, in denen zwar kein Kriegszustand mehr herrschte, aber auch kein Frieden. Auf den Trümmern des Kaiserreichs war die Republik errichtet worden, die sich sofort massiven Angriffen von links, dann auch von rechts ausgesetzt sah. Es folgten die Bekanntgabe der Bedingungen des Versailler Vertrags, die ungeheure Last der Reparationen, der Kollaps der Wirtschaft und die Grenzkämpfe im Osten gegen die neuen Nachbarn Polen, Tschechoslowakei und Litauen. Im Westen war es schon unmittelbar nach dem Rückzug der deutschen Armee zur dauerhaften Abtrennung Elsaß-Lothringens und zur vorübergehenden des Saarlands sowie zur Besetzung wichtiger Schlüsselpositionen im Rheinland durch die Alliierten gekommen, bevor am 11. Januar 1923 französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschierten (JF 2/23).

Sie dienten angeblich dem Schutz einer „Ingenieurmission“, deren Entsendung wegen eines geringen Verzugs der deutschen Seite bei der Ablieferung von Sachgütern als notwendig behauptet wurde. Doch faktisch ging es Paris darum, sich den Zugriff auf das wichtige Industriezentrum des Reiches zu sichern und letztlich die Abtrennung der ganzen linksrheinischen Region von Deutschland durchzusetzen. Damit sollte nicht nur ein traditionelles Ziel französischer Außenpolitik erreicht, sondern auch eine Korrektur der sogenannten „Fehler“ des Versailler Vertrages vorgenommen werden, der es versäumt hatte, die Reichseinheit zu zerschlagen. Für einen solchen Durchgriff gegen Deutschland konnte Paris zwar nicht auf die Unterstützung seiner alten Verbündeten USA und Großbritannien rechnen, aber auf die Polens und der CSR, die ihre Existenz ganz wesentlich französischer Unterstützung verdankten. Schon in den ersten Monaten nach der Okkupation des Reviers wurde der französische Oberkommandierende Marschall Ferdinand Foch nach Warschau und Prag entsandt, um die Möglichkeit eines Zweifrontenangriffs auf Deutschland zu sondieren.

Daß es dazu nicht gekommen ist, hatte wesentlich mit der wachsenden diplomatischen Isolierung Frankreichs als Folge der Ruhrbesetzung zu tun. Die war in den ersten Wochen der Operation aber kaum absehbar. Nachdem die Reichsregierung unter dem Parteilosen Wilhelm Cuno in einem dramatischen Aufruf „An das deutsche Volk“ zum passiven Widerstand aufgefordert hatte und sich durch Streik- wie Boykottmaßnahmen die Lieferung der Kohle verzögerte, auf die man französischer- wie belgischerseits besonders aus gewesen war, ging deren militärische Führung mit wachsender Härte vor. 

Schikanen und Gewalt der Besatzer waren an der Tagesordnung

Sie verhängte über die „friedensbesetzte“ Region den Belagerungszustand und verbot die Ausfuhr von Kohle in das unbesetzte – durch eine Zollgrenze abgetrennte – Deutschland, dessen Versorgungskrise dadurch weiter verschärft wurde. Gleichzeitig kam es zu drastischen Maßnahmen gegen Beamte und Eisenbahner, Industrielle und Arbeiter, die im wesentlichen den „leidenden Widerstand“ trugen. Bis Anfang Juli 1923 waren die meisten Schulen des Reviers sowie die Wohnungen und Häuser von 75.174 Personen beschlagnahmt und deren größter Teil – 71.145 Personen – ins Reichsgebiet abgeschoben worden. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe stellten 9.000 Beamte mit etwa 23.000 Familienangehörigen. 

Gleichzeitig verknappte man die Versorgung der Bevölkerung mit Kleidung, Nahrung und Heizmaterial, unterband nach Kräften jede Unterstützung aus dem Reich und begann, die einheimischen „Kumpel“ durch französische oder belgische zu ersetzen. Wer sich als besonders renitent erwies, wurde drangsaliert, mit hohen Geldstrafen belegt, als Geisel festgesetzt, unter fadenscheinigem Vorwand verhaftet und angeklagt. Die Militärgerichte fällten in der Zeit des Besetzung 150.000 Urteile wegen Beteiligung am passiven Widerstand und sogar Todesurteile im Fall von Sabotageakten. Die wurden allerdings regelmäßig in Zuchthausstrafen oder Zwangsarbeit auf der berüchtigten französischen Häftlingsinsel Ile de Ré an der französischen Atlantikküste umgewandelt. Schikanen durch die Besatzungstruppen waren ebenso an der Tagesordnung wie sexuelle Übergriffe gegen Frauen oder Gewaltakte, denen während der Zeit der Besetzung 137 Menschen zum Opfer fielen. „Es gibt kein Verbrechen und Vergehen des deutschen Strafgesetzbuchs, ja der Kriminalgesetzgebung der gesamten Kulturwelt, das Ihre Truppen auf deutschem Boden seit dem 22. Januar 1923 nicht begangen haben“, schrieb der ausgewiesene Regierungspräsident von Düsseldorf, der Sozialdemokrat Walther Grützner, an das französische Oberkommando.

Im allgemeinen hielt man sich an die Aufforderung der Reichsregierung, Ruhe zu bewahren. Aber schon das Mitsprechen des „Rütli-Schwurs“ – „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr“ – bei Aufführungen von Schillers Tell werteten die Besatzungsbehörden als feindlichen Akt und untersagten das Spielen des Stücks genauso wie das Singen des Deutschlandliedes. Dabei konnten solche Protestformen an der Gesamtsituation so wenig ändern wie das Lahmlegen von Schleusen, Kanaldurchfahrten oder Weichen, das Fälschen von Passierscheinen oder das Drucken von Flugblättern. Aber das wachsende Gefühl der Hilflosigkeit auf deutscher, die Angst vor einer „Sizilianischen Vesper“ auf der Seite der Okkupanten förderten eine gereizte Stimmung, die sich zuletzt am 30. März 1923 im „Essener Blutsonntag“ entlud. Als französische Soldaten in einer Wagenhalle der Firma Krupp Beschlagnahmungen durchführen sollten, kam es zur Arbeitsverweigerung der Beschäftigten. Die Folge war ein Tumult, in dessen Verlauf die Truppen das Feuer auf die Streikenden eröffneten und dreizehn Arbeiter töteten.

Ein Bericht der liberalen Frankfurter Zeitung über die Ereignisse endete mit den Sätzen: „Das Urteil der Welt über die Essener Vorgänge muß vernichtend sein für die vom Blutrausch befallene französische Soldateska und ihre kaltherzigen Gebieter. Wer aber wehrt dem Haß, der in zahllosen enttäuschten Menschen aufbrechen muß, wenn die Welt nicht endlich diesem Unheil ein Ende macht?“ Die Frage war nur zu berechtigt. Denn die Einigkeit fast aller politischen Kräfte, die unmittelbar nach der Besetzung geherrscht hatte, begann zu zerfallen. Auf der Linken gab es manchen, der die zunehmenden Spannungen für einen weiteren revolutionären Vorstoß nutzen wollte, im bürgerlichen Lager begann man über Kompromisse nachzudenken, während auf der Rechten die Forderung erhoben wurde, den offenen Aufstand zu entfesseln. 

Tatsächlich gab es in den Wochen nach dem Essener Blutsonntag Anzeichen dafür, daß der „passive“ in einen „aktiven Widerstand“ übergehen würde. Es kam zu einer Serie von Anschlägen, durchgeführt von Organisationen, die aus den Freikorps hervorgegangen waren, wie der Bund Oberland, der Bund Wiking, der Bund Ekkehard, die Organisation Heinz oder der Jungdeutsche Orden. Die „Heckenkrieger“ waren allerdings nicht nur von der Unterstützung der Bevölkerung abhängig, sondern auch von der Deckung durch militärische wie zivile Stellen im unbesetzten Gebiet. Die mußten ihrerseits den Anschein aufrechterhalten, daß sie gewaltsames Vorgehen ablehnten. Ein zusätzliches Problem entstand durch den latenten Konflikt zwischen Reichs- und preußischen Behörden, weil erstere den aktiven Widerstand grundsätzlich deckten – das Wehrkreiskommando Münster unterhielt eine zentrale „Sabotagestelle“ –, während ihn letztere zu unterbinden suchten und fallweise nach Ruhrkämpfern wegen Sprengstoffvergehen oder der Liquidierung wirklicher oder vermeintlicher Verräter fahndeten.

Frankreichs Regierungschef Poincaré lehnte Begnadigung ab

Was den aktiven Widerstand letztlich scheitern ließ, war aber eine Mischung aus Desorganisation, Mangel an konspirativem Talent und Infiltration durch französische oder belgische Agenten. Auch Schlageters Verhaftung ging offenbar auf Verrat aus den eigenen Reihen zurück. Dem 1894 geborenen Schwarzwälder Bauernsohn ging zu diesem Zeitpunkt bereits ein Ruf voraus. Der Kriegsfreiwillige hatte den Ersten Weltkrieg an der Westfront verbracht, diente sich bis zum Batteriechef hoch und war wegen „besonders riskanter Patrouillen“ ausgezeichnet worden. 1919 trat er in das Freikorps des Hauptmanns von Medem ein. Mit diesem nahm er im Mai des Jahres während des lettischen Unabhängigkeitskampfes an der Befreiung Rigas vom bolschewistischen Räte-Regime teil. Danach beteiligte sich der tollkühne „Baltikumer“ in anderen Freikorps am Kapp-Putsch in Breslau und 1921 an den Abwehrkämpfen in Oberschlesien, bevor er sich am subversiven Kampf gegen die Ruhrbesetzer beteiligte. Am 7. April 1923 wurde er dort schließlich festgenommen; ein französisches Militärgericht verurteilte ihn wegen Spionage und Sabotage. Daß bei den Anschlägen seines Trupps, zuletzt dem auf die Eisenbahngleise bei Kalkum, Menschenleben geschont worden waren, wertete das Tribunal nicht als mildernden Umstand, sondern fällte ein Todesurteil. Dessen Vollstreckung schien anfangs eher unwahrscheinlich, da sich viele Stimmen, vor allem aus kirchlichen Kreisen, für eine Begnadigung aussprachen. Aber der französische Regierungschef Raymond Poincaré blieb unerbittlich, als ihm die französische Öffentlichkeit wie die Opposition Weichlichkeit gegenüber den Deutschen vorwarfen. Das Urteil wurde bestätigt; ein Gnadengesuch lehnte Schlageter ab.

Nach Aussage aller Zeugen nahm Schlageter sein Schicksal gefaßt. Aber sein Tod löste in Deutschland eine ungeheure Welle der Empörung aus. Die Beerdigung des „nationalen Märtyrers“ wurde zur Kundgebung der Entschlossenheit, den Kampf fortzusetzen. Tatsächlich kam es in der Nacht zum 30. Juni 1923 mit dem Anschlag auf die Hochfelder Rheinbrücke in Duisburg zum spektakulärsten Anschlag, bei dem zehn belgische Soldaten getötet und weitere vierzig verletzt wurden. Doch zeigte sich bald darauf die Erschöpfung der Kräfte, nicht nur im Revier, sondern auch im Reich. Abgesehen von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Last der Unterstützungszahlungen für das Besatzungsgebiet von etwa 7,5 Millionen Goldmark täglich machten sich die Produktions- und Steuerausfälle bemerkbar und beschleunigten die Inflation. 

Hatte Anfang Juni eine Reichsmark noch 7.500 Dollar entsprochen, stand der Kurs im August bei 1,1 Millionen Reichsmark, am Jahresende bei 4,4 Milliarden. Die Regierung Cuno verlor den Rückhalt im Reichstag und trat am 13. August zurück. Das neue Kabinett bildete Gustav Stresemann auf der Basis einer Großen Koalition, die von den Sozialdemokraten bis zur nationalliberalen Deutschen Volkspartei reichte. Stresemann brach den passiven Widerstand ab, in der Hoffnung, Zugeständnisse zu erreichen. Aber vergeblich. Erst auf Druck der USA und Großbritanniens räumten Frankreich und Belgien bis zum August 1925 das Revier, nachdem die Zahlung der Reparationen über den sogenannten Dawes-Plan neu geregelt worden war.