Die ARD-Programmdirektorin Christine Strobl zeigte sich hocherfreut: „Mit ‘Asbest’ ist uns gleich zu Jahresbeginn ein bemerkenswerter Erfolg gelungen. Die Serie und die Begleitdoku wurden speziell für die Mediathek entwickelt und haben offenbar genau den Nerv der Zielgruppe getroffen“, sagte sie anläßlich der ersten Quartalsbilanz. Die fünfteilige Serie „Asbest“ rund um Clankriminalität startete im Januar und erreichte inzwischen rund zehn Millionen Aufrufe. Als Regisseur und Schauspieler im Doppeleinsatz ist Kida Khodr Ramadan. Der in Beirut geborene Filmemacher kann als einer der Gründerväter des deutschsprachigen Gangstergenres gelten.
Arabische Clans werden immer mehr Teil der deutschen Unterhaltungskultur. Im Februar 2017 präsentierte die Münchner Produktionsfirma Wiedemann & Berg auf der Berlinale die ersten beiden Folgen der von ihr gemeinsam mit den Autoren Richard Kropf, Hanno Hackfort und Bob Konrad entwickelten Serie „4 Blocks“. Obwohl die Drama-Reihe, die von den Strukturen der libanesischen Hamady-Familie in Berlin-Neukölln erzählt, zunächst nur auf dem hierzulande vergleichsweise unbekannten Sender TNT Serie lief, entwickelte sie sich schnell zu einem großen Publikumserfolg.Bei der zweiten Staffel erreichte sie laut des Sendernetzwerks Turner Broadcasting System (TBS) bereits eine Woche vor der Ausstrahlung des Finales mehr als 2,5 Millionen Zuschauer. Zudem waren die ersten beiden Staffeln auf Platz eins und zwei der meistverkauften Serien des Jahres 2018 bei iTunes. Damit ließ die deutsche Produktion sogar internationale Erfolgsformate wie „The Big Bang Theory“ und „Game of Thrones“ hinter sich.
Einige Fans können Realität und Fiktion nicht unterscheiden
Nicht nur das Publikum war begeistert, auch bei den Kritikern kam die Reihe gut an, was den Machern unzählige Preise einbrachte. „Auf 4 Blocks konnten sich erstaunlicherweise alle einigen: die Feuilletons wie die Jungs auf den Straßen Neuköllns“, faßte Carolin Ströbele von der Zeit die allgemeine Euphorie treffend zusammen. Dennoch gab es vereinzelt auch Stimmen, die in den expliziten Gewaltszenen und der positiven Darstellung der Protagonisten eine „Glorifizierung des Gangstertums“ sahen.
„4 Blocks“ ist die filmische Manifestation eines Kults, der sich vor allem bei migrantischen Jugendlichen und sogenannten Straßenrappern schon seit den frühen 2000er Jahren größter Beliebtheit erfreut. So gab sich am Set auch das „Who is Who“ der hiesigen Gangsterrapszene die Klinke in die Hand.
Eine der Hauptrollen durfte der aus Essen stammende Veysel Gelin übernehmen. Der Musiker mit den kurdischen Wurzeln kennt das atmosphärische Milieu, in dem die Serie spielt, nicht nur aus dem Fernsehen. Der Hip-Hop-Künstler, der meist nur unter seinem Vornamen auftritt, ist wegen „Körperverletzung mit Todesfolge in einem minderschweren Fall“ vorbestraft. 2009 war Veysel Teil einer Auseinandersetzung, bei der ein 29jähriger nach einem Schlag des heutigen Schauspielers stürzte und den Folgen seinen Verletzungen erlag. Gelin wurde daraufhin zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt, aus der er im Sommer 2012 wegen guter Führung vorzeitig entlassen wurde. Bereits während seiner Haftzeit trat er mit musikalischen Gastbeiträgen auf Veröffentlichungen des Labels Azzlackz auf. Das Unternehmen des Rappers Haftbefehl hatte Veysel ironischerweise kurz vor seiner Inhaftierung unter Vertrag genommen.
In „4 Blocks“ spielte der heute 39 Jahre alte Essener, der die Gewalttat, die ihn einst ins Gefängnis brachte, in der Folge in mehreren Interviews bereut hat, den aggressiven Abbas Hamadi. Das Motto, zu dem dieser sich bekennt, zu dem er seine „Brüder“ anhält – und sich als Essenz durch die gesamte Serie zieht, lautet: Der, der dir deine Ehre genommen, dich bestohlen, verraten oder deine Frau angefaßt hat, warum lebt der noch?“
Veysel ist nicht der einzige Rapmusiker, der in „4 Blocks“ eine Rolle spielt. Ein weiterer von ihnen ist der berüchtigte Pro-Palästina-Rapper Massiv. Dessen Fans schieben offenbar so sehr den Gangster-Film, daß einige von ihnen zwischen Fiktion und Realität nicht unterscheiden können. Nachdem der in Pirmasens geborene Künstler in der Serie erschossen wurde, wurde der Schauspieler, der seinem Charakter das Leben nahm, nicht nur wochenlang per Telefon und E-Mail bedroht, sondern sogar zusammengeschlagen. Der „hat in Prenzlauer Berg auf die Fresse bekommen. Von Arabern. Ich schwör auf meine Mutter“, faßte Massiv die Situation seines Schauspielkollegen in der Folge gegenüber dem Rap-Journalisten Rooz zusammen.
In der zweiten Staffel der Serie durfte auch der Hamburger Rapper Gzuz, Mitglied der skandal-trächtigen Hip-Hop-Gruppe 187 Strassenbande, in einer Nebenrolle mitwirken. Auf dem Vorstrafenkonto des Mannes, der mit richtigem Namen Kristoffer Jonas Klauß heißt, stehen unter
anderem: sexuelle Belästigung, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, das Sprengstoff- und das Waffengesetz sowie ein Überfall auf ein Handygeschäft. Mehr bittere Authentizität geht kaum. Fast kommt es einem so vor, als hätte es das Regieteam, bestehend aus Marvin Kren, Oliver Hirschbiegel Özgür Yıldırım, darauf angelegt, den Poetischen Realismus des französischen Films der 1930er und 1940er Jahre neu zu erfinden und auf die Spitze zu treiben.
Unbestritten ist der Einfluß ihres Werkes. Im Windschatten von „4 Blocks“ konnte unter anderem die Netflix-Produktion „Dogs of Berlin“ mitfahren. Der zehnteilige Krimi aus dem Jahr 2018 erzählt von einem türkischstämmigen Fußballer, der für die deutsche Nationalmannschaft spielt und am Vortag der Partie Deutschland gegen die Türkei ermordet wird. Die Ermittlungen der Polizei erstrecken sich unter anderem über die Neonaziszene, die serbische Wettmafia und einen libanesischen Clan – mit dabei als Clan-Chef: Deutschrapper Sinan-G.
Auch die ARD will vom Clan-Hype profitieren
Nun hat mit „Asbest“ also selbst die betuliche ARD ihre eigene Clan-Gangsterserie. Auch hier spielt die, in der Vorstellung deutscher Fernsehmacher offenbar einzige Alternative zur Kriminalität für Jugendliche mit Migrationshintergrund, der Profifußball, eine wichtige Rolle. Held der Serie ist der 19jährige Momo (gespielt von dem Rapper Xidir, bürgerlich Koder Alian), der bereits einen Vertrag bei der U23-Mannschaft von Hertha BSC in der Tasche hat, als er von seinen Cousins verraten wird – und wegen eines Überfalls ins Gefängnis muß.
Schauspieler und Regisseur Kida Khodr Ramadan gehörte nicht nur bereits in 4 Blocks“ als Hamady-Pate zu den prägendsten Protagonisten, der mehrfach ausgezeichnete Mime war auch schon in Detlev Bucks „Knallhart“ zu sehen. Die Neuköllner Milieu-Studie aus dem Jahr 2006, in der ein deutscher Junge von arabischen Gangstern zum Drogenkurier herangezogen wird, gilt vielen als stiller Beginn des deutschsprachigen Clan-Trends. Vieles, was von Kritikern damals noch als „zu klischeehafte“ Darstellung des Lebens in den Berliner Problembezirken angeprangert wurde, scheint heute weitgehend als Abbild der Realität akzeptiert und fester Bestandteil der bundesrepublikanischen Popkultur zu sein.
Die Folgen der ersten Staffel von „Asbest“ können in in der ARD-Mediathek abgerufen werden: