© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/23 / 26. Mai 2023

Metternichs Nachfahre
Henry Kissinger zum Hundertsten: Er reist immer noch viel und erklärt den Zustand der Welt
Elliot Neaman

Es war Kaiserwetter, aber etwas frisch in Simi Valley in Kalifornien am Montag, den 6. Februar. Auf dem Rasen der Ronald-Reagan-Präsidentschaftsbibliothek und dessen Museum haben sich 500 Menschen versammelt, um den ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan am Jahrestag seines 112. Geburtstages zu ehren. Darunter der ehemalige kalifornische Gouverneur Pete Wilson (Republikaner) und Reagans Sohn Michael. Es musiziert die Camp Pendleton Marine Division Band, dann ein Blechbläserquintett. Dann fallen Salutschüsse mit 21 Kanonen, ein offizieller Kranz des Weißen Hauses wird auf dem Grab von Präsident Reagan niedergelegt und als krönenden Abschluß hält der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, gelehnt gegen einen Holzhocker, eine Grundsatzrede. 

Kissinger, der in New York lebt und auch Zeit in der Karibik verbringt, sei im Rollstuhl mit einer flaggengeschmückten Decke auf seinem Schoß, auf die Bühne geschoben worden. „Er stand für die Nationalhymne auf, indem er die Hand eines Marines neben sich ergriff. Während er sprach, mit rauher Stimme und immer noch ausgeprägtem deutschen Akzent, stützte er sich aufs Podium“, schildert Tom Kisken vom Ventura County Star den Moment.

Die Rolle des Staatsmannes besteht darin, flexibel zu handeln

„Freunde, es ist für mich etwas Besonderes, heute hier zu sprechen, da wir erneut einen außergewöhnlichen Menschen und einen äußerst erfolgreichen amerikanischen Präsidenten ehren“ sprach Kissinger knapp drei Monate vor seinem 100. Geburtstag, den er am 27. Mai begeht. „Wie wir alle wissen, war Ronald Reagan ein Wahrheitsfanatiker, und deshalb wurde er ‘der große Kommunikator˚’ genannt“, erklärte der 99jährige und betonte, Reagan sei ein erbitterter Kalter Krieger gewesen – und, was weniger anerkannt und geschätzt werde, ein „eifriger und beharrlicher Friedensstifter“. „Reagan wußte, daß Amerika inhaltlich und geistig stark sein mußte, um die Weltordnung zu schützen, notfalls auch mit Gewalt“, zog er sein Fazit.

Mit 99 reist Kissinger immer noch viel und äußert sich immer noch zum Zustand der Welt. So hielt er Mitte Januar eine Videoansprache an die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums 2023 in Davos. Sein neuestes Buch „Leadership: Six Studies in World Strategy“ wurde 2022 veröffentlicht. Im Jahr 2021 war er Co-Autor von „The Age of AI“ über künstliche Intelligenz.

Geboren am 27. Mai 1923, wuchs Heinz Alfred Kissinger im bayerischen Fürth in einer Familie von strenggläubigen, orthodoxen Juden auf. Er war ein schüchterner Schüler, spielte aber in einer der besten Mannschaften der Region, SpVgg Greuther Fürth, Fußball. Er erlebte den Antisemitismus am eigenen Leib, nachdem er versucht hatte, sich in Fußballstadien einzuschleichen, in denen der Besuch von Juden verboten war, und von den Wachleuten und von Hitlerjugend-Banden geschlagen wurde. Seine Familie floh 1938 aus Deutschland, zunächst nach London, dann nach New York. 

 Obwohl Kissinger schon früh als vielversprechender Gelehrter anerkannt wurde, hatte er zunächst keine höheren Ambitionen, als Buchhalter zu werden. Er wurde 1943 zur Armee eingezogen, und nachdem er in der 84. Infanteriedivision in Frankreich gedient hatte, führte seine fließende Beherrschung der deutschen Sprache zu einer Versetzung zum Nachrichtendienst der Armee, als die Alliierten Anfang 1945 begannen, sich Deutschland von Westen her zu nähern. Anschließend wurde er zur Spionageabwehr versetzt und leitete eine Einheit in Hannover, die unter anderem Gestapo-Angehörige aufspürte. Nach der Niederlage Deutschlands wurde ihm die Leitung einer Entnazifizierungseinheit in Hannover übertragen, und 1946 unterrichtete er an der European Command Intelligence School in Camp King bei Frankfurt. 

Die Kriegserfahrungen weckten in dem jungen Kissinger eine tiefe intellektuelle Neugier auf Diplomatie, Regierung und den Aufstieg und Fall mächtiger Staaten. Er studierte Politikwissenschaften in Harvard und promovierte 1954 über Lord Castlereagh und Fürst Metternich, die Architekten des Wiener Kongresses von 1815 und des darauf folgenden europäischen Friedens. In seinem ersten Buch „A World Restored“, das 1957 erschien, vertrat er die Ansicht, daß das internationale System, das durch das Konzert von Europa nach der Niederlage Napoleons geschaffen wurde, sowohl notwendig als auch legitim war, da die europäische Ordnung durch die Französische Revolution und Napoleons imperiale Eroberungen gefährlich destabilisiert worden sei.

Für Kissinger besteht die eigentliche Rolle des Staatsmannes darin, innerhalb einer Reihe von Möglichkeiten flexibel zu handeln, um die Interessen des Staates und damit auch den Einfluß auf expandierende Regionen außerhalb des Landes zu fördern, anstatt auf der Grundlage vorgefaßter moralischer oder ideologischer Gebote vorzugehen. Dieses „realistische“ Prinzip hat seine Befürworter dazu veranlaßt, Kissingers spätere Rolle im Weltgeschehen zu begrüßen, wie etwa die Öffnung gegenüber China 1972, die Entspannung mit den Sowjets und die Pendeldiplomatie zur Beendigung des Konflikts im Nahen Osten. Seine Gegner sehen in derselben „Kissinger-Doktrin“ eine moderne Version des amoralischen, wenn nicht gar unmoralischen Machiavellismus, mit dem die Rolle der US-Regierung beim Sturz der rechtmäßigen chilenischen Regierung im Jahr 1973 oder bei völkermörderischen Kriegen wie dem Einmarsch von Suhartos Armee in Osttimor 1975 gerechtfertigt wurde. In diesen und anderen Fällen spielte Kissinger, oft hinter den Kulissen, eine entscheidende Rolle. Im Jahr 1976 kritisierte der dreiunddreißigjährige Senator Joe Biden (Demokraten) Kissingers Versuch, eine „globale Monroe-Doktrin“ zu verkünden.

 Kissinger hat seinen wichtigsten Biographen, Niall Ferguson, Thomas Schwartz und Walter Isaacson, gesagt, daß die Erfahrung seiner Jugend keine bedeutende Rolle bei der Entwicklung seiner politischen Ansichten gespielt hat. Dies mag auf psychologischer Ebene zutreffen, aber es ist klar, daß Kissingers Verständnis der Weltmächte als anarchische Gebilde in einem globalen Kraftfeld, das Primat der Außen- vor der Innenpolitik, durch die Niederlage Deutschlands beeinflußt wurde. 

 Die umstrittenen Aspekte von Kissingers Karriere, wie etwa seine Beteiligung am Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende, entsprangen der gleichen Logik. Kissinger betrachtete den globalen Kommunismus während des Kalten Krieges als existentielle Bedrohung, und die Mittel, mit denen solche Gefahren neutralisiert wurden, blieben dem Endziel untergeordnet. Die taktische Öffnung gegenüber dem kommunistischen China, die Nixon und Kissinger im gleichen Zeitraum mit großem diplomatischen Geschick inszenierten, war kein Widerspruch, sondern folgte der gleichen machtpolitischen Sichtweise. Wenn der Einfluß der Sowjetunion durch die Unterstützung des größeren und potentiell mächtigeren China eingedämmt werden konnte, dann war die subversive Ideologie Rotchinas zumindest vorübergehend den Vorteilen untergeordnet, die ein solches Bündnis für die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten und ihrer westlichen Verbündeten mit sich bringen würde. 

Der Watergate-Skandal schadete  Kissingers Renommee nicht

Auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik in den Jahren 1972 und 1973 war Kissinger maßgeblich an drei außenpolitischen Erfolgen beteiligt: Nixons historischem Besuch in Peking 1972, der Begrenzung von Atomraketen und der Unterzeichnung von Handelsabkommen mit Moskau sowie der vorläufigen Beendigung des Vietnamkriegs, für die Kissinger zusammen mit seinem vietnamesischen Amtskollegen Le Duc Tho den Friedensnobelpreis erhielt. Auch im Jom-Kippur-Krieg von 1973, in dem ein sowjetischer gegen einen amerikanischen Verbündeten kämpfte, spielte Kissinger eine wichtige Rolle, indem er dazu beitrug, den Konflikt zu beenden, bevor er zu einer globalen Konfrontation eskalierte. Seine Pendeldiplomatie, um Ägypten und Israel an den Friedenstisch zu bringen, endete mit Frustration, schuf aber wohl die Voraussetzungen, die später zu einem Friedensabkommen zwischen Ägyptens Präsidenten Anwar as-Sadat und Israels Premier Menachem Begin führten.

 Heute, da China Rußland als Großmacht in den Schatten stellt, warnte Kissinger die US-Politik davor, China nicht als Feind, sondern vielmehr als Konkurrenten zu betrachten. In einem Interview, das er vor drei Jahren der Welt gab, argumentierte Kissinger, daß es zwar immer das Ziel der USA sein werde, die chinesische Hegemonie zu verhindern, daß aber unter den gegenwärtigen Umständen eine Koexistenz dem unvorhersehbaren Ausgang einer militärischen Konfrontation vorzuziehen sei.

Der Krieg zwischen der Ukraine und Rußland hat die Grenzen von Kissingers Annahmen zur Realpolitik auf die Probe gestellt. Im Mai 2022 gab er auf dem Weltwirtschaftsforum eine umstrittene Erklärung ab, in der er vorschlug, die Ukraine solle mit Rußland auf der Grundlage einer Rückkehr zum Status quo ante vor dem 24. Februar 2022 verhandeln, was bedeutet, daß Rußland bestimmte Gebiete, insbesondere den Donbass und die Krim, als Preis für den Frieden behalten würde. 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte bissig: „Es scheint, daß Herr Kissinger nicht das Jahr 2022, sondern 1938 im Kopf hat, und er dachte, er spräche nicht zu einem Publikum in Davos, sondern im München jener Zeit, als die Familie von Herrn Kissinger aus Deutschland floh. Niemand hörte damals, daß es notwendig sei, sich den Nazis anzupassen, anstatt zu fliehen oder sie zu bekämpfen.“ 

Kissinger protestiert seitdem, daß seine Bemerkungen über einen Verhandlungsfrieden aus dem Zusammenhang gerissen worden seien, aber er hat seine früheren Einwände gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine zurückgenommen und ist nun der Ansicht, eine neutrale Ukraine sei nicht mehr lebensfähig. 

Der moralische Imperativ, der hinter Selenskyjs Sicht des Krieges steht, kollidierte in diesem Fall mit dem Flexibilitätsprinzip, das in Kissingers Pragmatismus verankert ist. Zuletzt plädierte Kissinger in einem Interview mit The Economist für einen Nato-Beitritt der Ukraine. „Für die Sicherheit Europas ist es besser, die Ukraine in der Nato zu haben. Dort kann sie keine nationalen Entscheidungen über territoriale Ansprüche treffen.“ Auch Rußland hätte davon Vorteile. „Ich würde Putin sagen, daß auch er sicherer ist, wenn die Ukraine in der Nato ist.“

Kissingers Einfluß wurde am stärksten, als 

Nixon ihn im September 1973 zum Außenminister ernannte. Watergate war für Nixon zu einem großen Ablenkungsmanöver geworden, was dazu führte, daß Kissinger im Umgang mit ausländischen Staatsoberhäuptern fast präsidiale Macht erlangte. Er blieb in dieser Schlüsselrolle, bis Carter im Januar 1977 als Präsident vereidigt wurde, obwohl er seinen Posten als nationaler Sicherheitsberater im sogenannten Halloween-Massaker von 1975 unter Präsident Gerald Ford (Republikaner) verlor. Ford hatte damals weitreichende Personalwechsel im Kabinett angestoßen.

Kissinger wurde zu einer weltbekannten Person, die es verstand, sich selbst zu vermarkten. Ungewöhnlich, daß der kleinwüchsige, bebrillte Ausländer mit dem schweren deutschen Akzent in den Siebzigern zu einem Sexsymbol wurde und zwischen seinen beiden Ehen sogar mit glamourösen Hollywood-Stars wie Jill St. John zusammen war.

Der Fall in Ungnade kam schnell. Nach dem Watergate-Skandal begann der Senat mit Untersuchungen über „unangemessene oder ungesetzliche“ Aktivitäten der Geheimdienste. Kissingers Rolle bei verschiedenen verdeckten Operationen kam ans Licht, darunter auch seine Verantwortung für den Tod des Chefs der chilenischen Streitkräfte, René Schneider, der 1970 mit Hilfe der CIA ermordet wurde. Schneider hatte zuvor entschieden,die chilenische Verfassung zu befolgen und den sozialistischen Präsidenten Allende ins Amt zu bringen. Bis heute wird Kissinger von seinen Gegnern wegen seiner Beteiligung an illegalen CIA-Operationen und den geheimen Bombardierungen von Laos und Kambodscha während des Vietnamkriegs als Kriegsverbrecher bezeichnet. 

Nach 1980 blieb Kissinger sowohl in der Reagan- als auch in der ersten Bush-Regierung in verschiedenen Funktionen in nationalen Sicherheitsgremien tätig. Und noch im vorigen veröffentlichte er das Buch „Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“.