© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Stalingrad im Nordatlantik
Nach dramatischen Verlusten beendete Dönitz im Mai 1943 die Geleitzugbekämpfung
Werner Becker

Im März 1943 stand der alliierte Geleitzugverkehr im Nordatlantik kurz vor dem Kollaps: Deutsche U-Boote versenkten 105 Frachter und Tanker mit fast 600.000 Bruttoregistertonnen – das entsprach einer Verlustrate von rund zwanzig Prozent. Im Folgemonat gingen die Versenkungsziffern aber wieder zurück, weil weniger Boote im Einsatz waren. Dann entsandte der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und Befehlshaber der U-Boote (BdU), Großadmiral Karl Dönitz, im Mai 1943 erneut etwa 100 seiner nun 254 operativ verfügbaren Boote in den Nordatlantik, um weitere große Geleitzugschlachten zu schlagen. In diesen wendete sich das Blatt urplötzlich auf drastische Weise.

Gab es im März noch 16 Eigenverluste, lag die Zahl der im Mai 1943 versenkten deutschen U-Boote bei 43, wobei 21 davon beim Angriff auf Konvois verlorengingen. Gleichzeitig schossen die „Grauen Wölfe“ immer weniger Schiffe des Gegners aus den Geleitzügen heraus: Anfang Mai erzielten sie zunächst 16 Erfolge, was allerdings schon mit der Vernichtung von sieben Booten einherging. Bis Mitte des Monats verschlechterte sich die Relation derart, daß bald auf jeden versenkten alliierten Transporter ein versenktes deutsches U-Boot kam. Und im Zeitraum zwischen dem 11. und 23. Mai mußte der BdU dann sogar den Verlust von zehn Booten verzeichnen, während lediglich ein einziger Frachter des Gegners torpediert wurde.

Fünf Faktoren bedingten die Erfolge der alliierten Abwehr

Diese dramatische Entwicklung resultierte vor allem aus fünf Faktoren, nämlich der nunmehr routinemäßigen sofortigen Entschlüsselung des deutschen Funkverkehrs durch die Briten, der umfassenden Verwendung von Radar, Huff-Duff-Kurzwellenpeilgeräten und neuartigen Wasserbomben sowie der Schließung der letzten Lücken in der Luftraumüberwachung in den Weiten des Nordatlantiks durch Langstreckenbomber und Flugzeugträger. Wobei die letzteren zumeist Teil der neu gebildeten Support Groups waren, welche im Bedarfsfall heraneilten, um die Eskorten der Geleitzüge bei der U-Boot-Abwehr und -Jagd zu unterstützen.

In Anbetracht der desolaten Lage befahl Dönitz am 24. Mai 1943 den Abbruch der Geleitzugbekämpfung zwischen den Britischen Inseln und der amerikanischen Ostküste, womit die U-Boot-Waffe der Kriegsmarine faktisch ihr „Stalingrad im Nordatlantik“ erlebte. Allerdings schickte der BdU die dem Gegner technisch nun offensichtlich unterlegenen Boote der Baureihen VII C und IX auch weiterhin auf See, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung ihrer Besatzungen jetzt lediglich noch bei rund 90 Tagen lag. Dies begründete Dönitz mit dem Umstand, daß dadurch „mindestens 3.000, wenn nicht gar 4.000 Flugzeuge gebunden wurden“, die ansonsten für die Bombardierung deutscher Industrieanlagen und Städte zur Verfügung gestanden hätten.