Adipöse Heranwachsende und Adulte, darunter eine Wuchtbrumme, deren XXL-T-Shirt zahllose Male die Aufschrift „Artist“ trägt, pilgern in Richtung des Domplatzes in Halberstadt, wo „Europas leckerstes Street Food Festival“ seine Zelte aufgeschlagen hat. Doch von den annoncierten Würmern und Insekten findet sich keine Spur, auch die angekündigte große Auswahl von Craft Beer fehlt. Zum Glück habe ich in meiner Manteltasche ein Fläschchen Maibock eingeschmuggelt, aber neu macht der auch nichts. Stattdessen produziert sich ein irischer Musiker, der internationale Hits nachspielt und sich damit brüstet, für ein besonders großzügiges Honorar extra von weit her angereist zu sein, um wenig später zum besten zu geben, er käme ja aus Bamberg („Franken“), also weder Bayern noch Deutschland. Das teilnahmslose Publikum schaut wie das Schwein ins Uhrwerk und scheint so fade wie die ganze Szenerie – zum Davonlaufen. Unglaublich dagegen die ebenso farbenprächtige wie vitale Erinnerung an den Rummel, der hier zu DDR-Zeiten regelmäßig gastierte.
Als ich der Aufseherin sage, für welches Medium ich arbeite, erstarren ihre Gesichtszüge einen Moment.
Wo sind eigentlich, um mal nicht durch die Blume zu sprechen, all die Rummel hin? Im Kopf habe ich noch die Sendung „Die Medien sind unser Schicksal“, der jüngste Kontrafunk-Essay des Philosophen und Medienwissenschaftlers Norbert Bolz. Demnach könne der Mensch 98 Prozent der Wirklichkeit nicht bewußt wahrnehmen, da das Gehirn nur 40 Bit pro Sekunde verarbeite. Der Filmriß des Menschen, so meine Reflexion, ist also vorprogrammiert, beginnt das Kino doch erst bei 24 Bildern pro Sekunde. Vielleicht, so ein weiterer Gedanke, haben die Bilder aber auch gelernt, davonzulaufen.
Am anderen Ende des Domplatzes, in der romanischen Liebfrauenkirche, eröffnet zugleich die Ausstellung „Erdverbunden Himmelwärts“ (bis 8. Oktober 2023). Die Kleinplastiken der Gemeindepädagogin Ilse-Marie Vogel, allesamt aus Ton, sollen an Ernst Barlach erinnern. Jedenfalls werden die Besucher aufgefordert, die in diversen Haltungen verharrenden Tonfiguren vorsichtig zu berühren, als könnten diese damit zum Leben erweckt werden. Automatisch denke ich an die apellative Botschaft „Touch me“ von Samantha Fox (1986), die damit zu DDR-Zeiten den Rummelplatz beschallte. Heute nun wird augenscheinlich die Religion des Animismus bemüht. Dabei ist die Idee durchaus anrührend – und führt bei der Aufseherin zur genau entgegengesetzten Reaktion. Als ich ihr am Ausgang auf Nachfrage entgegne, für welches Medium ich arbeite, scheinen ihre Gesichtszüge für einen Moment zu erstarren.
Foto: Tonfigur von Ilse-Marie Vogel in der Lieb-frauenkirche in Halberstadt (bis 8. Oktober)