© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Karfreitag for Future
Deutsche Oper Berlin: Bachs „Matthäus-Passion“ – musikalisch gedeutet, szenisch illustriert
Jens Knorr

Zum Schlußchor der Passion unterläuft einem der kindlichen Spieler ein Fehler. Sein Pappschild mit der Frage nach der Zukunft hält es verkehrt herum: die Zukunft steht kopf. Der Fehler wird bemerkt und umgehend korrigiert, dabei hat er zum guten Schluß doch noch zu Bild gebracht, was der groß angedachten, aber nicht groß durchdachten Inszenierung von Bachs „Matthäus-Passion“ über drei Stunden lang nicht gelungen war, Wirklichkeit nicht abzubilden, sondern sichtbar zu machen.

Ein auf der Bühne eingerichtetes Podest teilt das Publikum in die Zuschauer auf einer dahinter aufgebauten Tribüne und die Zuschauer im Saal. Vier Orchester verteilen sich auf beide Seiten der Vorbühne, die Hauptbühne und den zweiten Rang, der Chor der Deutschen Oper auf die Seitenlogen, Choristen der Berliner Laienchöre unter das Publikum. Denn wir sollen zwei der Choräle ja mitsingen, wie sie die protestantische Leipziger Gemeinde mitgesungen haben mag, als am Karfreitag 1727 in der Thomaskirche unter Leitung ihres Kantors „Die Passion unseres Herrn Jesu Christi nach dem Evangelisten Matthäus“ zum ersten Mal erklang. In der Deutschen Oper erklingt, wie heute gemeinhin üblich, die spätere Fassung von 1736. Ein Notenblatt haben wir am Einlaß erhalten.

Die Kinder verbildlichen, was die Musik ausdrückt

Alessandro De Marchi dirigiert und sorgt einerseits für ein blutvolles Zusammenspiel der Solisten, Chöre und Orchester, für jähe Perspektivwechsel zwischen intimer und öffentlicher musikalischer Szene, für schroffes Aufeinanderprallen und friedliches Nebeneinander gegensätzlicher musikalischer Schichten. Bedingt durch die letztlich kreuzförmige Anordnung im Gesamtraum muß De Marchi andererseits auch wieder breitere Tempi wählen, um alles in Balance zu halten. Das ergibt monumentale Wirkungen, die der Hörer einer eigentlich längst ad acta gelegten romantischen Bach-Rezeption zuschlagen möchte.

Doch nicht Orchester und Chöre, ja nicht einmal die Gesangssolisten vollbringen das Kreuz dieser Aufführung, sondern Kinder und Jugendliche des Kinderchors der Deutschen Oper. Sie hätten es verdient, im Programmheft namentlich aufgeführt zu werden! Sie stellen auf dem Podest und um das Podest herum die Passionsgeschichte als lebende Bilder, Tableaux vivants, nach. Die werden wiederum für beide Fraktionen des Publikums als Standbilder, Frames, auf Bildschirme projiziert, die über dem Geschehen angebracht worden sind (Bühne: Natascha von Steiger).

Die Entscheidung der Regie erinnert an Ruth Berghaus’ legendäre Inszenierung der Oper „Die Verurteilung des Lukullus“ an der Berliner Staats-oper aus dem Jahre 1983, in der sich, gesungen und gespielt vom Kinderchor der Staatsoper, die Toten der Kinderkreuzzüge zum Sprecher des Totengerichts ermächtigten, in Vertretung der Nachgeborenen den Prozeß gegen den Feldherrn fordernd und führend. 

Der Evangelist mutiert zu einem hyperventilierenden Schulmeister

Gab es dort dialektisches Theater, gibt es hier pietistisches Schultheater zu schauen. Ein Theaterpublikum ergibt noch keine Gemeinde, eine Lehrstückbühne kein Lehrstück, die oratorische Form kein episches Theater. Die inszenierten Kinder verdoppeln lediglich Geschehen und Rollen, Haltungen und Gefühle, die von den Instrumentalisten und Sängern, einfühlend oder kommentierend, bereits musikalisch ausgedrückt werden. Weil der Kinderchor lediglich den Cantus firmus in den beiden Chören zu singen hat, die den ersten Teil der Passion rahmen, und die Regie sie nicht ihre Widersprüche und Einsprüche aus Text, Noten und Handlung herauslesen und in Gegenbild und Widerspiel bringen läßt, bleiben sie sprachlos und ihre Handlungen leeres Ritual.

Einspruch kommt von außen. Regisseur Benedikt von Peter hat ihn der Schauspielerin Mina Christ übertragen. Die spielt das böse Mädchen, das keine Rolle mehr spielen, die Passion nicht mehr stattfinden lassen will. Ihren Text nimmt sie aus der Apokalypse des Johannes. Ihre beständige und zunehmend hysterische Anrufung des Weltendes und ihre Versuche, das vorbestimmte Bühnengeschehen aufzuhalten, unterminieren die Kritik an diesem Geschehen, die Bach seiner „Großen Passion“ eingeschrieben hat und die ihre Darsteller, das Mädchen eingeschlossen, jederzeit in ihre Darstellung einbringen könnten.

Das tun die Gesangssolisten jeder auf seine Weise, Joel Allison in der Baß-, Kieran Carrel in der Tenor- und Siobhan Stagg in der Sopran-Partie, vor allem aber die ganz exzeptionelle, bewegende Annika Schlicht in der Alt-Partie und der Baß-Bariton Padraic Rowan als ein Jesus, dessen wärmender Ton imstande ist, noch den geringsten seiner Brüder zur Nachfolge zu ermutigen. Von der Regie mit handelsüblicher Personenführung abgespeist, vergegenwärtigen sie Folterung und Hinrichtung des Menschensohns auf eindringlichste Weise, aber verteidigen sie nicht. Sie vertreten ihren Standpunkt mit musikalischen Mitteln.

Joshua Ellicott allerdings muß den Evangelisten Matthäus zu einem hyperventilierenden Schulmeister verzeichnen, der ganz echauffiert vom Spiel zu retten sucht, was zu retten ist – und darüber seine Partie verliert. Wer im Gedächtnis hat, wie die Partie von ihren großen Interpreten wahrhaft bestürzend vorgetragen worden ist, der wird mit dem rechthaberischen, geifernden, fast parodistischen Duktus, den Ellicot anzuschlagen gezwungen wird, wenig anzufangen wissen.

Der Einspruch des Mädchens gegen die Inszenierung ist selber Inszenierung, sie wechselt nur die Rollen. Das wiederum wirft die Frage nach der Handlungsfreiheit auf und rückt die Figur von der Regie, durchaus gewollt, in die Nähe der schwedischen PR-Marionette eines ökologischen Kapitalismus Greta Thunberg.

Die Kinder haben sich zur Ruhe gelegt, da reißen ihnen das Mädchen und ihr „wokes“ Gefolge Kissen und Bettdecke weg, damit sie erwachen und aufstehen, und sie gruppieren sich mit Pappschildern zur Wahnwache: Demut? Opfer? Angst? Verantwortung? Zukunft? 

Um der kostbaren Augenblicke willen, in denen es den Spielern gelang, bewußte Haltung von oktroyierter Gefühligkeit sauber zu scheiden, eigenständig gefundene Handlung von eingelernter Pose, szenische Metapher von prätentiösem Schaubild – um dieser kostbaren Augenblicke willen, um dieses ernsthaften Ensembles willen, sollte man die Aufführung unbedingt gesehen und gehört haben.

Die nächsten Vorstellungen von Bachs „Matthäus-Passion“ an der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße 35, finden statt am 18. und 21. Mai, jeweils um 18 Uhr. Empfohlen ab 11 Jahren. Kartentelefon: 030 / 34 38 43 43

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