© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Freude, Blut und Tränen
Sehnsuchtsort Westpreußen: Dank aufgefundener Briefe ist das Ahnenpuzzle endlich zusammengesetzt
Curd-Torsten Weick

Es ist wie fast wie ein Fünfer im Lotto. Dank der Hilfe vieler Angehöriger fügte sich das Puzzle der männlichen Vorfahren zusammen. Vor allem dank der Einträge in den Kirchenbüchern ist nun belegt, daß die Weicks seit dem 16. Jahrhundert im württembergischen Althengstett bei Calw lebten. Am 15. November 1580 erblickte Christing Weick das Licht der Welt. Leider ist nichts über ihn und seine Nachkommen bekannt. Das sollte sich erst am 7. Oktober 1781 ändern. Da übermannte Johann-Jakob Weick (geb. 1756) zusammen mit Johann Frohmeyer das Wanderfieber und sie machten sich auf nach Westpreußen. Knapp drei Wochen vorher hatten sich die Brüder Johann und Michael Keck, Leonhard Angerhofer, Kaspar Mayer und Jakob Wacker auf ihre Kundschafter-Reise begeben.

Doch warum? Der Dreißigjährige Krieg habe weite Landstriche Deutschlands verwüstet und zum Teil sehr stark entvölkert. Der Herzogtum Württemberg sei besonders betroffen gewesen, schildert Udo Vullhorst im Statistischen Monatsheft Baden-Württemberg (7/2015). Der Bevölkerungsrückgang im Herzogtum Württemberg zwischen 1634 und 1655 soll sich auf 57 Prozent belaufen haben. Doch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts habe die Bevölkerungszahl wieder stark zugenommen (1697: 284.000, 1750: 467.100 Einwohner), ohne daß die Wirtschaft – in erster Linie die Landwirtschaft – ausreichend Verdienstmöglichkeiten geboten hätte. „Die Folge war der starke zahlenmäßige Anstieg besitzloser Schichten, die bestenfalls auf Tagelohn hoffen konnten, eher aber noch auf Betteln oder auch bandenmäßige Kriminalität angewiesen waren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der demographische Druck war so groß, daß in den 1750er- Jahren 22.000 Menschen auswanderten, immerhin so viel wie Stuttgart um diese Zeit Einwohner hatte“, so Vullhorst.

In Potsdam gaben sie dem König selbst ein „Memorial“ in die Hände 

Angerhofer war einer der Auswanderungswilligen, bei dem König Friedrichs II. Werben um Kolonisten für das 1772 nach der 1. Teilung Polens an Preußen fallende Westpreußen Früchte trug. Er nahm sich auch die Zeit und schrieb über die Erlebnisse der Reise – die Abschrift des Originals liegt im Staatsarchiv Ludwigsburg. „Der Engel des Herrn hat uns alle frisch hin- und hergeführt. In Magdeburg haben wir den Königlichen Paß bekommen, in Potsdam ein Memorial machen lassen, dem König selbst in die Hände gegeben.“ Von dort sei es in die Kammer nach Berlin gegangen, dann nach Marienwerder. Immerhin habe man dort drei oder vier Taler Reisegeld bekommen. Angekommen in Klein Schüssgen (etwa eine Stunde Weg nach Kulm) schildert Angerhofer das Drama: „Da waren nichts als 12 eingefallene Strohhütten; die Polen sind noch drin, dem König das Feld zu bebauen. Ich bin etliche Tage dagelegen, zusammen mit 35 in einer Stube. Wegen des Ungeziefers standen mir die Haare zu Berge“, schrieb Angerhofer entsetzt.

Doch dann habe ihm der „Engel des Herrn“ ein Einsehen gegeben und er machte sich erneut über die Weichsel, um ein Gut zu besehen. Angerhofer hatte Glück. Ein befreundeter Kolonist erklärte ihm, er habe ein Gut für ihn. Ein altes „Pfaffen-“ oder „Erbpachtsgut“ soll es vorher gewesen sein. Der Neusiedler kaufte das Gut für 650 Gulden vom „Herrn Kriegsrat“. „Es gehört dem König. Es hat aber alle Freiheit, keine Soldaten und es gibt keinen Frondienst.“ Es gebe aber keine Hirsche, auch keine Schweine. „Was man will, kann man pflanzen“, so Angerhofer. Jährlich müßte er 130 Taler an den König zahlen.

 Die anderen sechs Kundschafter waren nicht so schreibgewandt, doch überraschten drei von ihnen die herzoglich-württembergische Regierung. Die frisch aus Westpreußen zurückgekehrten Gebrüder Keck und Johann-Jakob Weick begehrten am 2. Januar 1782, nach Westpreußen zu ziehen. Zuerst wurden die drei mit einer Geldstrafe, dem sogenannten kleinen Frevel, belegt, weil sie bereits den größten Teil ihrer Habseligkeiten verkauft hatten, obwohl die Genehmigung noch nicht erteilt worden war. Parallel dazu erhielten die drei Wanderlustigen die Auflage, sich am 6. März in der öffentlichen Audienz zu melden.

Dort erfuhren sie, daß man, „obwohl sie allen wohlmeinenden Warnungen halsstarrigerweise kein Gehör gegeben“ hätten, ihrem Vorhaben keine Steine mehr in den Weg zu legen gedenke. Doch müßten sie vor ihrer Reise etwaige Schulden begleichen und auch auf ihre „Untertanen- und Bürgerrrechte in forma legali“ verzichten.

Die sich anschließende Reise verlief wie folgt: nach fünf Wochen kamen sie in Berlin an, dann gab es 14 Rasttage, es folgten drei Tage in Potsdam, dann wieder fünf Tage in Berlin und noch 15 Tage für den Weg nach Bromberg. Dort angekommen übernahmen die drei, denen sich noch die drei Herren Riefle, Asfahl und Nusskern angeschlossen hatten, das Vorwerk Klein Gartz im Amt Pelplin. Die beiden Kecks brachten je 1.333 Reichstaler ein. Johann-Jakob Weick und Riefle je 133, Nusskern 200 und Asfahl 100 Reichstaler.

Wie es dann weiter ging, darüber ist nicht viel übertragen worden. Jedenfalls konnten Johann-Jakob Weick und seine Frau Maria Katharina (geb. Kling) ihre fünf Kinder durchs Leben bringen. Der 1801 geborene Karl-Ludwig setzte die Linie fort. Laut den Erzählungen war dieser zuerst Gutsinspektor in Altjahn (Stara Jania) im Landkreis Marienwerder. Später machte er sich selbständig und pachtete eine Domäne in Wielbrandowo im Amtsbezirk Skurz (Skórcz) im Landkreis Preußisch Stargard. 

Doch Ruhe kehrte nicht ein. Das Gehöft der Domäne brannte während des sogenannten Polnischen Aufstands in der Provinz Posen im Jahr 1846 nieder. Doch finanziell kam Karl-Ludwig mit einem blauen Auge davon und pachtete im nahen Ponschau (Pączewo) einen Hof. Es reichte sogar dafür, daß er im Alter seinem Sohn Karl Gustav (geb. 1848) im Jahr 1874 nahe Skurz ein Gehöft kaufen konnte. 

Es begann die friedlichste und wohl auch glücklichste Zeit des bereits fast hundertjährigen Aufenthalts in Preußen. Am 11. September 1877 heiratete Karl Gustav seine Auguste (geb. Hoffmann). Beide erlebten rüstig mit allen ihren neun Kindern im Jahr 1937 auf ihrem Bauernhof die Diamantene Hochzeit. Im Juli 1938 starb Auguste an Herzschlag. Karl Gustav lebte noch knapp vier Jahre auf dem Altenteil des „Tannhofs“ und starb im Februar 1942 im 92. Lebensjahr an Altersschwäche.   

Bereits im Jahr 1920 hatte Sohn Gustav August (geb. 1882) den Hof übernommen. Doch die Zeiten hatten sich grundlegend gewandelt. Der Versailler Vertag hatte 1919 die Abtretung der Provinz Westpreußen an Polen bestimmt. Daß es als Angehöriger einer nationalen Minderheit in Polen – im Jahr 1931 lebten im Kreis Preußisch Stargard laut Volkszählung 71.829 Menschen, davon 3.433 Deutsche – kein Zuckerschlecken war, schilderte dann Augusts Sohn Kurt (geb. 1922). „Meine Schulzeit begann mit dem Besuch der deutschen Volksschule im zwölf Kilometer entfernten Bordzichow (Borzechowo). Nach drei Jahren wurde diese aber von den polnischen Behörden geschlossen. Ich ging dann in eine vormals von deutschen Behörden erbaute nun polnische Schule. Trotz polnischen Unterrichts schloß ich mit durchschnittlich gutem Zeugnis die Volksschule ab. Höhere deutsche Schulen waren nicht mehr vorhanden. Ein weiterer polnischer Schulunterricht kam für mich nicht in Frage, so daß ich im elterlichen Betrieb, den ich erben sollte, mithalf und mich fachlich weiterbildete.“   

Das Leben der evangelischen „Schwaben“ (Szwaby“) im sogenannten „Korridor“ wurde von Tag zu Tag schwieriger. Denn die auf „Entdeutschung gerichtete polnische Minderheitenpolitik sollte durch die Wechselwirkung von Assimilation durch Entzug der geistigen Exitenzgrundlage einerseits und der Verdrängung durch Entzug der materiellen Existenzgrundlage andererseits erreicht werden“, beschrieb Hugo Rasmus in seinem Standardwerk „Pommerellen/Westpreußen 1919–1939“ die Situation. Kein Wunder, daß den Deutschen in dem Gebiet der Einmarsch der deutschen Truppen am 1. September 1939 als „Tag der Befreiung“ in Erinnerung“ blieb. Aus Skurz wurde Groß Wollental,  doch nichts war wie früher. 

Fünf Jahre später eskalierte die Situation. „Wir hatten schon im August 1944 drei Familien Flüchtlinge aus Kurland und Litauen aufgenommen. Man hörte von der kämpfenden Front die ganz schweren Geschütze grollen. Am 2. August wollten wir mit dem Dreschsatz Roggen dreschen, aber alle 20 Menschen, die ich zur Arbeit bestellt hatte, waren über Nacht zu Armierungsarbeiten bei Thorn abtransportiert worden. Das Geschieße hörte man von Woche zu Woche näher kommen“, schrieb Gustav August im Jahr 1954/55 an seine Geschwister und fuhr fort: „Im Dezember 1944 ratterten die ersten großen zweistöckigen Lazarettbusse mit Verwundeten, von Bromberg kommend, durch Skurz. In der Bahnhofstraße stehen die Lehrer mit den Schulkindern Ehrenspalier. Die Kinder singen das Lied ‘Ich hatte einen Kameraden’. Genauso wie ich es im ersten Weltkrieg oben bei Lötzen auch erlebt hatte. Wir fuhren damals nur auf Bauernwagen.“

Mitte Januar 1945 kamen dann die ersten großen Flüchtlingstrecks aus Strasburg, Neumark, Briesen durch Skurz. „Ohne Ende sind die Trecks. Minus 20 Grad, tiefer Schnee, die Pferde stumpf oder gar nicht beschlagen, die Wagen zum Teil überlastet schlingern auf den glatten Straßen. Alle Wagen wurden nur von Frauen, Greisen oder sogar Kindern geführt. Den steilen Hügel in der Skurzer Querstraße konnten, infolge der Glätte, die Wagen nicht mehr hoch. Dort ist die Straße verstopft mit gestürzten Pferden, die immer wieder vergeblich versuchen aufzu­stehen“, schreibt Gustav August. Am 27. Januar 1945 – immer noch strenger Frost und eisiger Wind – habe sich auf der Schmentauer Chaussee langsam ein langer Zug Frauen bewegt. „Es waren 600 jüdische Frauen, die von SA-Männern geleitet, zu Fuß von Strasburg kamen, wo sie als Gefangene in der Pelzindustrie gearbeitet“ hatten, so der Bauer. „Dieses Bild war mit eines der schrecklichsten des Krieges. Frauen mit zugefrorenen Augen. Nur mit Säcken behangen waren ihre Körper. Weinend und laut jammernd und betend schlichen sie in ihren Holländerschuhen dahin. Der Tod war ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Als dieses Jammerbild durch Skurz zog, standen die Menschen weinend in ihren Haustüren, und die Parteigroßschnauzen waren nicht zu finden.“

„Am 5. Februar kam ich in der Mittagszeit auf meinem stolzen Braunen nach Hause. Das Pferd in den Stall. Kaum war ich im Zimmer, da rasten drei Tiefflieger über unseren Hof hinweg. Deutlich sahen wir die Feuerstreifen zwischen den Propellern und auch Feuerkugeln fallen. In einigen Sekunden brannte unsere Scheune von Ende zu Ende. Sie war voll mit Stroh gefüllt. Auch der Vieh- und Kuhstall fingen an zu brennen. Doch Gott sei Dank konnten die Treckwagen, die doch für uns einen besonderen Wert hatten, gerettet werden. Die Menschen waren doch seit Ur-Urgroßvaters Zeiten gewöhnt, sonntags zur Kirche zu gehen. Jetzt hatten sie schon fünf Jahre hindurch Sonntage für Sonntag Feuerwehr spielen müssen. Aber als unser Gehöft brannte, brannten auch gleichzeitig drei andere Gehöfte, große deutsche Gehöfte. Von der von der NSDAP angeschafften motorisierter Feuerwehr aber keine Spur. Die beiden Parteigroßschnauzen liegen stinkbesoffen mit ihren Haremsweibern in ihren Luxusbuden“, schreibt Gustav August. 

Am 14. Februar kam der Räumungsbefehl für den Kreis Pr. Stargard. Dann die Flucht mit Frau und Tochter mit dem Treckwagen unter steten Fliegerangriffen. Über Bütow (Pommern), das brennende Stettin, Pasewalk, Neubrandenburg ging es nach Friedland. „Ja, nun sind wir alle heimatlos“, schrieb Gustav August im Dezember 1945 in Gedanken an seine acht Geschwister, von denen er die Adresse von nur vieren kannte, und zog sein Fazit: „Bomben und Granaten sind es nicht gewesen, die mich veranlaßten, den Ort, in dem unsere Wiege stand, zu verlassen. Pferdediebstähle und Bandenüberfälle, vor denen man jahrelang auf dem einsamen Bauernhof nicht eine einzige Nacht sicher war, haben mir das Wandern erleichtert. Obwohl wir bei unserer Flucht so ins Blaue hineinfuhren, sagte ich mir immer wieder: ‘Wir fahren aus der Fremde zurück in unsere Heimat’.“





Westpreußen

1225/26

Herzog Konrad von Masowien ersucht den Deutschen Orden, ihm im Kampf gegen die heidnischen Prußen (Pruzzen) beizustehen und verspricht ihm im Gegenzug den Besitz des Kulmer Landes.


ab 1231

Stadtgründungen durch den Deutschen Orden, (u.a. Thorn (1231), Kulm (1233), Marienwerder (1233).


1454/1466 bis 1772

Nach der Ordensherrschaft bis zur Zugehörigkeit zum Königreich Preußen ab 1772 war das westliche Preußenland ein Ständestaat unter der Oberhoheit der polnischen Krone.


1772 bis 1920 bildete das Gebiet Westpreußen eine preußische Provinz, die im Westen an Pommern, im Osten an Ostpreußen und im Süden an Posen grenzte.


1919/1920

Durch den Vertrag von Versailles hört die Provinz Westpreußen auf zu existieren. Die Region kommt als „Polnischer Korridor“ zum neugebildeten polnischen Staat.


1939

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht  wird aus dem „Korridor“ der „Reichsgau Danzig-Westpreußen“ gebildet.


1945

Durch die Bestimmungen der Potsdamer Konferenz wird die Region unter polnische Verwaltung gestellt.


www.westpreussische-gesellschaft.de