© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Auf ein neues!
Wahlen in der Türkei: Allen Unkenrufen zum Trotz zeigt sich das System Erdoğan stärker als erwartet
Felix Hagen

Die türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag haben das stark polarisierte Land weiter gespalten. Während die Koalition aus AKP und MHP des Amtsinhabers Recep Tayyip Erdoğan (AKP) zum jetzigen Zeitpunkt über eine komfortable Mehrheit im türkischen Parlament verfügen dürfte, deutet der Stand der Auszählung zur Präsidentschaftswahl auf eine Stichwahl zwischen Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) hin. Während letzterer nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu auf 45,06 Prozent der Stimmen kommt, kann Erdoğan 49,24 Prozent  auf sich vereinen und scheitert damit knapp an der absoluten Mehrheit. Dies würde eine Stichwahl notwendig machen, die Stimmen des Drittplazierten, Sinan Oğan, könnten dabei den Ausschlag zugunsten Erdoğans geben. Oğan gilt als Panturkist und Nationalist, seine Anhängerschaft dürfte in ihrer Ausrichtung eher dem Lager des derzeitigen Präsidenten zuzuordnen sein. 

Die zuständige Wahlbehörde sprach von „organisatorischen Schwierigkeiten“, die ein offizielles Endergebnis verzögern würden. Verantwortlich dafür sei auch die „Vielzahl an Stimmen von Auslandstürken“, deren Auszählung sich verzögere. Auch Oğan verwies auf angebliche Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit den sogenannten Auslandsstimmen, er werde „kein schnelles Fait accompli durch mangelhaft überprüfte Stimmen aus dem Ausland akzeptieren“. Für die nächste Runde der Wahl will sich der von der türkischen Presse als „Königsmacher“ bezeichnete Oğan mit seinen Anhängern abstimmen, bevor er eine Wahlempfehlung abgeben wird.

Als Haupthindernis für eine Wahlempfehlung zugunsten des Oppositionellen Kılıçdaroğlu gilt das unklare Verhältnis des Sozialdemokraten zu prokurdischen Gruppen. Die sind zwar offiziell nicht Teil seines Wahlbündnisses, ihre Stimmen dürften aber zum überwiegenden Teil an den CHP-Chef gegangen sein. Der gebürtige Aserbaidschaner Oğan hatte sich im Wahlkampf nicht mit verbalen Angriffen gegen kurdische Aktivisten zurückgehalten, seine Anhänger gelten als klar rechts verortnet.

Trotz der Widerstände geht Kılıçdaroğlu zuversichtlich in die nächste Runde. Vor Anhängern in seiner Wahlkampfzentrale gab er sich kämpferisch und verkündete, er werde „sich weiterhin gerade machen“, man werde die nächste Runde „gemeinsam bestreiten“. Die Ereignisse des Wahltages werde man auswerten und Unregelmäßigkeiten öffentlich machen.

Parteigänger des Zweitplazierten werfen offiziellen Stellen der Regierung Wählerbeeinflussung und Wahlfälschung vor. Auch Beobachter der OECD sprechen von einem „unfairen Vorteil“, den die Regierungspartei im Wahlkampf gehabt habe. Die Regierung von Präsident Erdoğan hatte zuvor zwei Beobachtern des Zusammenschlusses, einem dänischen und einem schwedischen Abgeordneten, die Einreise verwehrt.

Kooperation aller Kräfte gegen die AKP ist höchst unwahrscheinlich 

Die Auszählung der Parlamentswahl ergibt hingegen ein klares Bild. Trotz einiger Verluste kann sich die AKP als stärkste Kraft im Plenum behaupten und 266 Sitze auf sich vereinen, ein Verlust von 29 Sitzen und etwa 7 Prozent der Wählerstimmen.

Die mit der AKP in der Regierungskoalition arbeitende nationale MHP verschlechtert sich leicht um ein Prozent, kommt aber aufgrund des türkischen Wahlrechts auf einen zusätzlichen Sitz und damit auf 50 Sitze im 600 Sitze umfassenden Parlament. Gemeinsam hat die Koalition damit 316 Sitze, eine klare aber nicht überragende Mehrheit des als „Volksallianz“ bezeichneten Bündnisses. Die Konkurrenz der „Nationalallianz“ aus der sozialdemokratischen CHP (169 Sitze) und der rechtskonservativen Iyi (44 Sitze) kann demgegenüber lediglich 213 Sitze ins parlamentarische Feld führen, die grünlinke Liste aus Kurden und linken Kräften kommt auf 62 Sitze. Sollte Kılıçdaroğlu als Sieger aus der Stichwahl hervorgehen, dürfte sein Versprechen, das Parlament wieder zu stärken, durch eine Erdoğan-Mehrheit in Frage gestellt werden.

Eine Zusammenarbeit aller Kräfte gegen die AKP gilt im Parlament als ausgeschlossen, die ideologischen Unterschiede zwischen der Sammelliste aus prokurdischen und grünen Politikern und den parlamentarischen Vertretern der MHP oder der Iyi gelten als unüberwindbar.