© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Alle Macht den Lobbyisten
Bürgerräte: Statt mehr Demokratie droht mehr Bevormundung, Täuschung und Korrumpierung sozialer Impulse
Fabian Schmidt-Ahmad

Das Vertrauen der Deutschen in das politische System der Bundesrepublik schwindet und schwindet. Nun soll nach dem Willen der Ampelkoalition ein „Bürgerrat“ neue Begeisterung entfachen. Tatsächlich bündelt der Vorgang wie in einem Brennglas das ganze Instrumentarium an politischer Bevormundung, Bürgertäuschung und Korrumpierung sozialer Impulse, wodurch der Beruf des Politikers heute mittlerweile einen unappetitlichen Beigeschmack bekommen hat.

Das Verfahren sieht vor, 160 deutsche Staatsbürger auszuwählen, die sich mit „konkreten gesellschaftspolitischen Themen befassen“ sollen, so Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). „Bürgerräte könnten niemals die repräsentative Demokratie ersetzen, sie könnten aber einen Beitrag dazu leisten, das Parlament näher an die Bürgerinnen und Bürger zu bringen.“ Freilich gibt Bas damit zu, daß Bürger auf der einen und Parlamentarier auf der anderen Seite bisher wohl getrennte Wege gehen.

Urheber dieser Idee ist Bas’ Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble (CDU), der mit über einem halben Jahrhundert als Abgeordneter der dienstälteste Volksvertreter der deutschen Geschichte ist. Immerhin zeigt der Parlamentsbrahmane mit diesem Vorstoß, daß ihm sein eigenes Kastenwesen unheimlich ist. Allerdings ist da politiktheoretisch einiges durcheinandergekommen. Und wie bei so vielem gilt auch hier: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Betrachten wir die Sache näher.

Nach Polybios’ berühmter Unterscheidung der Verfassungen gibt es drei verschiedene Herrschaftsformen: die Herrschaft aller, die Herrschaft der wenigen und die Herrschaft des einen, was wir für gewöhnlich als Demokratie, Aristokratie und Monokratie bezeichnen. Dabei ist wichtig zu verstehen, daß es nicht auf die Organisation der Gesellschaft ankommt, sondern darauf, wer letztlich die Entscheidungen trifft, die von den übrigen Teilen der Gesellschaft umgesetzt werden müssen.

Entscheiden die versammelten Bürger auf dem Marktplatz, die mächtigen Patrizierfamilien im Senat oder doch der Fürst in seiner Burg hoch über der Stadt? Wer hat letztlich das Sagen? Und je nachdem, wie wir die Frage beantworten, müssen wir von Demokratie, Aristokratie oder Monokratie sprechen. Daß es eine organisierte Bürgerschaft, Patrizierfamilien oder einen Fürsten gibt, die durchaus politische Funktionen ausüben können, ist unerheblich. Ebenso, wie diese sich regenerieren.

Dieser Sachverhalt wird mit der Französischen Revolution und dem seither entstandenen modernen Parlamentarismus bedeutsam. Denn bis dahin galt die Demokratie als in der Größe beschränkt. Es war der Kunstfertigkeit griechischer Architekten zu verdanken, daß sich die Bürger der Stadt im Amphitheater noch einigermaßen verständigen konnten, was die Voraussetzung für gemeinsame Entscheidungen ist. Aber ab einer gewissen Zahl an Bürgern war eben einfach Schluß.

Es war der Coup der Französischen Revolution, ihre Form der Herrschaft erfolgreich als sogenannte repräsentative Demokratie zu propagieren. Tatsächlich aber, indem ab 1789 die Herrschaftsgewalt vom König auf die Nationalversammlung übertragen wurde, handelte es sich um den Wandel einer Monokratie zu einer Aristokratie. Der Abgeordnete, der den Feudalherrn zum Schafott führte, löschte nicht dessen Funktion aus, sondern übernahm sie. Denn er hatte jetzt das Sagen. Der wesentliche Unterschied bestand lediglich in der Regeneration, wenn die Wahlurne den Geburtsschoß ersetzt. Doch am prinzipiellen Verhältnis ändert sich nichts. Es ist schon so, und viele Verwerfungen der Gegenwart wären bereits gemildert, wenn das erkannt würde. Wer die eigenen Entscheidungen mit einem dekorativen Kranz von Gremien und Räten umflicht, deren Stimme aber letztlich als unverbindliche Empfehlung übergangen werden darf, hat lediglich seinem Willen eine demokratische Werbebotschaft verpaßt.

Dazu zählt auch der „Bürgerrat“, dessen 160 Mitglieder aus der zehnfachen Menge an Kandidaten ausgewählt, zu bestimmten Fragen geschult und die Aussagen ohne Entscheidungsgewalt tätigen werden. Die Wahrheit ist, daß die Ausweitung der Demokratie auf den Flächenstaat erst sehr viel später und an anderer Stelle gelang. Nach Jahrzehnten zähen Ringens verabschiedete der Kanton Zürich 1869 die erste Verfassung, die die letzte Entscheidung durch Volksabstimmungen vorsah.

Seitdem herrscht eine unterschwellige Konkurrenz zwischen „repräsentativer“ und „direkter“ Demokratie, wobei erstere zweifelsohne mit Eifer international das Geschehen beherrscht, während letztere sich in stiller Bescheidenheit übt. Auch im Grundgesetz findet sich dieses Spannungsverhältnis. Artikel 20 legt zwar fest, daß die Staatsgewalt „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird, doch bekanntlich geschieht nur ersteres, während letzteres weiterhin im Schlummer liegt. Schon früh gab es Bestrebungen, das zu ändern. Hier wäre der Anthroposoph Peter Schilinski zu nennen, der ab 1958 die Zeitschrift Jedermann (später Jedermensch) herausgab und dessen Umfeld später erheblichen Einfluß auf die Studentenbewegung ausübte. Vor allem Wilfried Heidt vom Kulturzentrum Achberg sowie Joseph Beuys und seine Kunstprojekte machten die Idee der direkten Demokratie innerhalb der Grünen bekannt. Freilich ist das mit der Demokratie so eine Sache.

Wer sich von der Opposition auf den Weg zur Macht bewegt, wird so einiges vergessen, unter anderem das Versprechen, diese als erstes abzugeben. 1983 wurde eine Initiative, Forderungen nach verbindlichen Volksabstimmungen im Parteiprogramm festzuschreiben, von dem sich mittlerweile etablierten Parteiapparat verhindert. Aus diesem Erlebnis formierte sich der Kreis um Schilinski außerparlamentarisch neu, was 1988 zum Verein „Idee“ führte, der sich später in „Mehr Demokratie“ umbenannte. Heute ist der Verein eine professionelle Lobbyorganisation, die durchaus auf beachtliche Erfolge zurückblicken kann.

Er wird nicht müde zu betonen, wie die für die repräsentative Demokratie üblichen Kungeleien im Hinterzimmer das Vertrauen in die Politik zerstören, und ist selbst bestes Beispiel. Obwohl er eigentlich zur politischen Neutralität verpflichtet ist, gilt ein Unvereinbarkeitsbeschluß mit der AfD. Also der Partei, die derzeit als einzige im Bundestag den Vereinszweck der direkten Demokratie unmittelbar umsetzen will. So viel Anbiederung muß belohnt werden. Den lukrativen Auftrag für Auswahl und Schulung des pseudodemokratischen „Bürgerrates“ erhielt ausgerechnet „Mehr Demokratie“. Wenigstens wirbt der Verein nun als abschreckendes Beispiel für die Sache.