Von derzeit acht Milliarden wächst die Weltbevölkerung laut UN-Prognose bis 2050 auf 9,7 bis 10,1 Milliarden an. Dann ist die EU mit derzeit 447 Millionen Einwohnern vielleicht „klimaneutral“, aber sicher um die erschütternde Erkenntnis reicher, jahrzehntelang auf einem politischen Nebenkriegsschauplatz gekämpft zu haben. Dieser durch etwa zwei Milliarden zusätzliche Erdenbürger vertiefte, von keiner „Energiewende“ zu kompensierende ökologische „Fußabdruck“ wirft seine Schatten voraus – den man außerhalb von Brüssel und Berlin als Menschheitsproblem Nummer eins wahrnimmt.
So rechnet die UN-Ernährungsorganisation FAO vor, daß derzeit eine Milliarde Menschen weltweit hungern. Um zehn Milliarden „angemessen“ zu ernähren, müßte sich die globale Agrarfläche nahezu verdoppeln. Selbst wenn das möglich wäre, hätte die Natur dafür – unabhängig vom „menschengemachten Klimawandel“ – den Preis apokalyptischer Landschaftszerstörung, zunehmender Trockenheit, extremer Dürren, katastrophaler Überschwemmungen, rapide schwindender Biodiversität und explodierenden Artensterbens zu zahlen.
Das gentechnische Skalpell löst die Schrotflinte des Züchters ab
Gestapelte Gärten, Nahrung aus Insekten oder Gemüsezucht in antarktischer Kälte sind aus FAO-Sicht nur läppische Nischenlösungen. Aber wie kann unter den aktuellen Umständen die Ernährung der expandierenden Weltbevölkerung sichergestellt werden? Die einzig realistische Antwort lautet: auf Fortschritte in der Pflanzenforschung hoffen. Daß es damit gar nicht schlecht steht, berichtet der Biologe Christian Jung, der aber zugleich verdeutlicht, gegen welche Widerstände gerade Forscher der alten und immer noch führenden „Pflanzenzüchternation“ Deutschland dabei ankämpfen müssen (Bild der Wissenschaft, 3/23).
Als Musterbeispiel dient dem Wissenschaftsjournalisten die traditionsreiche KWS Saat SE & Co. im niedersächsischen Einbeck, das viertgrößte Pflanzenzuchtunternehmen der Welt. Dort arbeitet man daran, eine neue Weizensorte mit langanhaltender Toleranz gegen möglichst viele Pilzarten zu kreieren. Und nicht etwa in herkömmlicher Weise durch Auslese und Kreuzung zu „züchten“. Denn dieser Weg, mit radioaktiver, ionisierender Strahlung und Chemikalien das Genom des Weizens zu einer pilztoleranten Mutation zu bringen, ist langwierig, mühsam und mit hohen Risiken behaftet. Die gewünschten Mutationen sind oft mit bis zu 100.000 unerwünschten Mutationen verknüpft, die es aufwendig wieder herauszukreuzen gilt. Mit einer Größe von 17 Milliarden Basenpaaren und 100.000 kodierenden Genen ist dieses Genom das umfangreichste einer Nutzpflanze überhaupt. In der Regel vergehen daher zehn bis 15 Jahre, bis eine neue Sorte auf dem Feld steht.
Bei KWS ist darum seit 2021 die Genschere Crispr-Cas9 im Laboreinsatz, um Mutationen gezielter und schneller herbeizuführen und die Pflanze den Landwirten binnen fünf Jahren anbieten zu können. Jung wählt dafür den anschaulichen Vergleich zwischen der Schrotflinte, mit der klassische Züchter hantieren, und dem molekularbiologischen Skalpell der Genschere, mit dem die KWS-Forscher experimentieren, um das „Sensibelchen Weizen“ aufzurüsten. Diese Pflanze kann sich nur unzureichend selbst gegen Schädlinge schützen.
Weizen ist mit einem Ertrag von 774 Millionen Tonnen (2022) hinter Mais (1.162 Millionen Tonnen) und gleichauf mit Reis die weltweit verbreitetste Nutzpflanze. Weizen hat auch ein körpereigenes Abwehrsystem. Aber das dafür zuständige Regulator-Gen läuft nur allzu kurz an, wenn der Pilzerreger die Pflanze befällt, da es von einem „Repressor-Protein“ viel zu früh ausgeschaltet wird.
Soll die Abwehrfunktion länger intakt bleiben, muß man das Repressor-Gen mittels Genschere neutralisieren. Bei der KWS ist dieser präzise Eingriff ins Erbgut in einer am Sommerweizen erprobten Versuchsreihe bereits gelungen. „Ohne Zweifel – das Experiment ist geglückt“, sagen die Laborleiter Anja Matzk und Dietmar Stahl. „Die Nachkommen der Pflanze, die im Labor editiert und dann für die Saatgutproduktion ins Gewächshaus überführt wurden, zeigen ebenso die gewünschte Mutation wie deren Nachfolgegeneration. Sie alle genomeditiert.“
Auch beim ökonomisch wichtigeren Winterweizen ist man mit der neuen Methode gut vorangekommen. Die Genom-Editierung habe nachweislich funktioniert, und die Phase der Saatgutvermehrung sei erfolgreich abgeschlossen worden. Derzeit laufe der letzte Zyklus im Gewächshaus zwecks Detailüberprüfung der experimentell ausgelösten Resistenzen gegen diverse Pilzkrankheiten. Doch bevor es zu einer landwirtschaftlichen Nutzung dieser Entwicklungen aus dem Labor kommen kann, sind in der EU noch hohe politische Hürden zu überwinden.
Bislang ist das nach EU-Recht derart erschwert, daß es praktisch unmöglich ist. Denn 2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), daß mit Crispr traktierte Pflanzen grundsätzlich als „gentechnisch veränderte Organismen“ einzustufen sind, obwohl sie sich von genetisch manipulierten Pflanzen, bei denen tatsächlich fremdes Erbmaterial übertragen wurde, klar unterscheiden. Die Crispr-Pflanze weist selbst im molekulargentischen „Fingerabdruck“ im Vergleich mit einer klassisch gezüchteten Pflanze keine Unterschiede in Wachstum, Wirkung oder sonst einer Kategorie auf.
EuGH-Urteil zu „gentechnisch veränderten Organismen“
Die damalige Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) gehörte – Arm in Arm mit den Grünen und Umweltverbänden – zu den lautesten Befürwortern des EuGH-Urteils (Az. C-528/16), das in der Agrarforschung überwiegend auf Unverständnis stieß. In der Ampelregierung ist sie ins Entwicklungshilferessort gerutscht. Die EU-Kommission zeigte sich unter dem Druck der Demographie und der FAO lernwillig. Im Herbst 2022 initiierte sie eine Phase der „Public Consultation“, um festzustellen, ob die rigide EU-Gentechnikgesetzgebung noch zeitgemäß ist. Die Vorstellung der Ergebnisse ihrer „Konsultationen“ soll demnächst erfolgen.
Für die liberale EU-Fraktion (ALDE) lieferte der niederländische Biologe Joost van Kasteren neue Argumente: Die neuen Züchtungs- und Gen-Editierungstechnologien (NBTs) könnten „eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung der Ziele des Green Deal der EU spielen, insbesondere bei der Farm-to-Fork-Strategie, mit der die nachhaltige Entwicklung des Lebensmittelsystems gefördert werden soll“. Und wenn es ums Klima geht, müßte die rot-grüne Zustimmung gewiß sein – oder?
„Gene Editing: An Essential Tool for Sustainable and Healthy Food Systems“ (Future Europe 3/23): feu-journal.eu
EU-Studie zu „Genome-edited crops“: www.europarl.europa.eu