© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/23 / 12. Mai 2023

Frisch gepreßt

Wieland. Der Schwabe Christoph Martin Wieland (1733–1813) kam 1772 an den Hof des Herzogtums Sachsen-Weimar. Goethe, Herder und Schiller, die ihm folgten, komplettierten dann das Viergestirn der Weimarer Klassiker. Wieland, der zuerst am Platze war und den literarischen Ruhm des Kleinstaats begründete, war allerdings auch der erste, dessen Werk schon zu Lebzeiten in Vergessenheit geriet. Selbst der wortgewaltige Arno Schmidt, der in den 1950ern vehement für die Wiederentdeckung Wielands vor allem als politischer Schriftsteller warb, konnte diese Rezeptionsblockade gegenüber dem Verfasser endloser Versepen, Singspiele und Briefromane nicht mehr durchbrechen. Und als Begründer des politischen Journalismus in Deutschland und zeitweiliger Parteigänger der Französischen Revolution ließ sich der liberale Rokoko-Philosoph, der mit „der Unordnung nur spielte, ohne die Ordnung ernstlich anzutasten“, wie es in der ersten modernen Wieland-Biographie Friedrich Sengles 1949 heißt, ebensowenig vermitteln. Im Fahrwasser seines Hausgottes segelnd, wäre Jan Philipp Reemtsma, der 1988 in drei Bänden die „Politischen Schriften“ des Aufklärers Wieland herausgab und der ihm in den letzten Jahrzehnten ein Dutzend Studien widmete, heute eigentlich der ideale Autor für den nochmaligen Versuch gewesen, Wielands Modernität und Aktualität nachzuweisen. Die Chance hat er mit seinem allzu zitatenfrohen, exzessiv paraphrasierenden, aber selten analysierenden, neue Erkenntnisse gewinnenden, über Sengle nicht hinaus führenden Opus leider vertan. (wm)

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Verlag C. H. Beck, München 2023, gebunden, 704 Seiten, Abbildungen, 38 Euro





Prinzip Guérot. Die Politikwissenschaft-lerin Ulrike Guérot war wegen ihrer euphorischen Thesen in der Europapolitik gefeierte Wissenschaftlerin und Publizistin des Juste milieu. Das änderte sich schlagartig, als sie gar nicht mehr so stromlinienförmige Thesen zur Corona-Politik oder dem Ukraine-Krieg formulierte. Plötzlich sah sich der Medienliebling von seinen einstigen Fanboys an den Pranger gestellt. In einem Interview-Band mit dem Philosophen Matthias Burchardt – der, zuletzt mit dem „Querdenker“-Prädikat belegt, ein Leidensgenosse Guérots ist – stellen die beiden diesen „menschenverachtenden Prozeß“ dar, in welchem die politisch-mediale Meute bei abweichenden Meinungen ihre unbarmherzigen Krallen ausfährt. Denn da geht es nicht nur um Gegenwind im Diskurs. Neben den Cancel-Culture-Mechanismen und Kontaktschulderklärungen fließen nun auch keine Forschungsgelder mehr, die eine woke Drittmittel-Jury der Bonner Professorin für Europapolitik plötzlich versagt. (bä)

Ulrike Guérot, Matthias Burchardt: Das Phänomen Guérot. Demokratie im Treibsand. Klarsicht Verlag, Hamburg 2023, broschiert, 138 Seiten, 18,99 Euro