Die deutsche Filmszene blickt oft bewundernd nach Frankreich. Autorenkino à la Roger Vadim oder Actionfilme wie Luc Bessons „Nikita“ (1990), beides sorgte in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig für große Augen. Gelang dem westlichen Nachbarn schließlich schon früh, was hierzulande selten eintrat: internationaler Erfolg bei Kritikern wie beim Breitenpublikum. Einige Streifen wie beispielsweise „Mein Vater, der Held“ (1991) oder „Drei Männer und ein Baby“ (1985) wurden sogar in den Vereinigten Staaten gecovert. Andere Blockbuster wie „Léon Der Profi“ (1994) und „Das fünfte Element“ (1997) spielten gleich in den USA und wurden auf englisch originalvertont.
Reale Unruhen als Inspiration
Seit einigen Jahren etabliert sich im französischen Film ein Sujet, das auch den deutschen Produktionen erneut seinen Stempel aufdrücken wird: die Vorstadt. Früher Schreckgespenst, verdrängter und mißachteter Schandfleck, geht heute ohne „Banlieue“ kaum mehr etwas im vermeintlich authentischen französischen Film – und das genreübergreifend. Die Brennpunkte, die sozialen Betonbauten und die rauhen multiethnischen Charaktere, die sie der Boheme und der Bourgeoisie fast verächtlich entgegenspucken, sind längst fester Bestandteil von hippen Subkulturen und linksliberaler Kreativszene.
Den Weg dazu geebnet hat das 1988 erschienene Sozialdrama „Lärm und Wut“, das den Fokus auf zerrüttete arme Familien der Arbeiter- und Unterschicht legt. Die enge, träumerisch gezeichnete Verbindung der 13jährigen Hauptfigur Bruno zu einem Kanarienvogel spiegelt die Themen Vernachlässigung und Einsamkeit in einer von Verwahrlosung und Verlusten gekennzeichneten Kindheit – die jedoch in erster Linie französisch geprägt ist. Die Vielvölkergesellschaft und die daraus resultierenden Probleme schlagen erst 1995 mit dem Schwarz-weiß-Drama „La Haine“ von Mathieu Kassovitz, das ein junges Trio aus einem Juden, einem Maghrebin und einem Schwarzafrikaner zwischen Straßenschlachten und tristem Alltag zeigt, ein wie eine Bombe.
Seitdem bestimmen die Konfliktlinien jenseits der traditionellen Mehrheitsgesellschaft zunehmend den französischen Film, insbesondere bei jungen Regisseuren. „Die Wirklichkeit liegt in der Banlieue“ titelte bereits 2005 die FAZ mit Blick auf die Filmfestspiele in Cannes. Eine aufgeladene Stimmung, die in einer seitdem berühmten Rede des damaligen Innenministers und späteren Präsidenten Nicolas Sarkozy gipfelte, in der er am 19. Juni 2005 nach einer Schießerei, in der ein elfjähriger Junge durch eine verirrte Kugel getötet wurde, der trauernden Mutter öffentlich versprach, die Trabantensiedlungen „mit dem Kärcher reinigen“ und „das Pack“ beseitigen zu wollen. Eine Steilvorlage für alle „Kulturschaffenden“, die seit „La Haine“ die Ursachen für die regelmäßigen Unruhen in rassistisch motivierter Polizeigewalt und Vernachlässigung sozial Schwacher suchen und darstellen.
Der Trend des Banlieue-Themas hat seitdem spürbar an Tempo gewonnen, auch fern der Festivals und stereotypischen Juroren mit großen bunten Brillen auf den Weltverbesserernasen. Schon 2004 hob der Actionreißer „Banlieue 13“ und sein zweiter Teil (2009) die Thematik in die Sphäre von Popcorn und klingelnden Kinokassen. Verbunden mit einer gehörigen Portion Ausblick in die Zukunft: 2010 sind einige Pariser Vororte mit hohen Mauern umgeben, die Polizei zieht sich zurück und überläßt das Terrain kriminellen Organisationen.
Wie recht die Autoren mit ihrer Zuspitzung haben sollten, zeigen jüngere, sich mehr an der aktuellen Realität orientierende Werke. 2019 zeigten mit dem Netflix-Film „Banlieusards“ und dem Drama „Les Misérables“ gleich zwei Produktionen die Lebensbedingungen im Frankreich des 21. Jahrhunderts. Letzterer sucht bewußt Verbindung und Bruch zugleich zum gleichnamigen Hochkultur-Klassiker von Victor Hugo, dessen Roman an dem gleichen Ort angesiedelt ist wie der Film: Montfermeil, heute Teil des Plattenbaualptraums Saint-Denis. Drastischer kann man den Abstieg und Zerfall der Grande Nation nicht verdeutlichen.
Der Oscar-Kandidat begleitet drei desillusionierte Polizisten, die mit grenzwertigen Methoden versuchen, auf der Straße zu bestehen. Die Kontrolle eines Jugendlichen gerät aus dem Ruder, ein Schuß aus einer Gummigeschoßwaffe fällt, und die Gesetzeshüter werden dabei von einer Drohne gefilmt. Sie versuchen daraufhin, den Piloten samt belastendem Videomaterial zu schnappen, während die Jugendlichen des Viertels auf Rache aus sind – nicht nur gegen die „Flics“, sondern in einer Art anarchistischem Wutrausch gegen alle starken Unterdrücker des Viertels: die Islamisten, die Zigeunerfamilien, die Clans, die afrikanischen Gangs.
Eine ähnliche Abrechnung zeigen die Macher der Netflix-Produktion „Athena“ (2022), in der die als diskriminiert dargestellten Jugendlichen nach dem gewaltsamen Tod eines arabischen Kindes ihren Vorort besetzen und wie eine mittelalterliche Burg gegen die anrückende Polizei verteidigen, von der sie verlangen, die in Uniform vermuteten Täter auszuliefern. Das Drehbuch dazu schrieb passenderweise die Regisseurin von „Les Misérables“, Ladj Ly.
Die Bildästhetik überlagert die sozialkritische Botschaft
Wirklich neu sind die Handlungen dabei nie. Die Inspirationswege und Vorbilder führen zurück zu den Unruhen 2005 im Nachgang der umstrittenen Kärcher-Rede. Allerdings sind Dramaturgie, Ästhetik und Kameraführung tatsächlich oft großes Kino. Die bildgewaltige Aufmachung überlagert verstärkt den abgedroschenen Inhalt. Wie in Kriegsfilmen interessieren die Hintergründe der Schlachtszenen kaum mehr, Hauptsache das Geballer ist innovativ und effektvoll umgesetzt.
Die eigentlich angeprangerten sozialen Mißstände geraten so ins Abseits beziehungsweise werden als nun mal gegebene Wahrheit dargestellt. Sie erscheinen so als unhinterfragte Kulisse, Folklore, die weniger aufwendig und einfallsreich produzierte Streifen als langweilige mit Klischees überfrachtete 08/15-Krimis dastehen lassen. Man nehme einen biofranzösischen Spießer-Ermittler und mische ihn mit einem Banlieue-Cop mit Migrationshintergrund, dazu ein bißchen Etepetete-Bürgerlichkeit und ein paar taffe Multikulti-Figuren, fertig: Gähn! Dies ist besonders an den Netflix-Reihen „Ein Mordsteam“ (seit 2012) oder „Lupin“ (seit 2021) zu beobachten und belastet auch die eigentlich vielversprechende Serie „Die Welt von morgen“ (2022) über die Entstehungsgeschichte der französischen Gangsterrap-Kultkombo „Nique ta mère“ (NTM).
Wirklich ambitioniertes, aus der Reihe tanzendes Kino und Streaming würde sich heute rechten bis patriotischen Milieus zuwenden wie der Ultra-Szene im Fußball oder der Génération Identitaire. Vorlagen gibt es. In ihrem 2015 erschienenen ersten Teil der Vernon-Subutex-Bestsellertrilogie wirft die öfter für Eklats sorgende Starautorin Virginie Despentes einen kritischen, aber verständnisvollen Seitenblick auf die Motivation von Mitgliedern der Identitären Bewegung. Und in der Tat kommen auch in „Athena“ ähnliche Aktivisten vor – allerdings als plumpe rechtsextremistische Killer, die aus taktischem Kalkül besagten arabischen Jungen totprügeln, um die Tat der Polizei in die Schuhe zu schieben, damit es zum Bürgerkrieg kommt. So einfach hat es sich die Filmbranche mit den gewalttätigen Migranten in den Banlieues nie gemacht.