Der Bruch mit ihrer Ikone Sahra Wagenknecht droht die Linkspartei in die Bedeutungslosigkeit zu stürzen. Als Reaktion darauf haben die großen Medien ihre Liebe zur Partei verdoppelt. Wo immer es geht, lassen die Abendnachrichten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Politiker der Linken zu Wort kommen, hingegen kaum einmal Sprecher der AfD, die doppelt so stark im Bundestag vertreten ist. Die Botschaft, die vermittelt werden soll, ist klar: Seht her, wir haben eine funktionierende parlamentarische Demokratie, in der sogar eine radikale, ja eine systemkritische Opposition ihren Platz findet, und dies ist ihr Gesicht! Was im Umkehrschluß zeigt, daß die Linke längst zum etablierten Parteienkartell und zum politisch-medialen Komplex gehört, der sich nun Sorgen macht, der linke Rand könnte erodieren und ein unkalkulierbares Protestpotential freisetzen.
Die FAZ, die einst eine verschämte Liebe zu Wagenknecht pflegte, versieht sie nun mit giftigen Adnoten, unterstellt ihr die „Kunst der Irreführung durch Locksignale“ und „Selbsttäuschungen einer Berauschten“ und bringt den thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow gegen sie in in Stellung. Im Interview unterstellt Ramelow ihr schnöde Geldgier. Das Gespräch schließt mit der vielsagenden Frage an Ramelow: „Sind Sie die letzte Lebensversicherung der Linken?“
Die Partei scheitert weniger an persönlichen Animositäten als an objektiven Unverträglichkeiten, die bereits 1990 sichtbar wurden. Einerseits empfiehlt sie sich als konsequente Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit, andererseits propagiert sie den „Wokismus“ plus offene Grenzen. Den Widerspruch können Anhänger der Grünen aushalten und genießen, die im Staatsapparat tätig sind; wer sich am unteren Ende der sozialen Skala befindet, muß ihn erleiden. Zweitens hat die Partei ihre Funktion als östliche Heimatpartei, als erklärte Verteidigerin einer aus gesonderten Erfahrungen gespeisten Lebenswelt verloren. Die Verankerung im Osten war das Standbein, die Westausdehnung das Spielbein. 2007 vereinigte die damalige, relativ kompakte Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) sich mit der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) einer Sammelbewegung frustrierter Gewerkschaftler und Sozialdemokraten im Westen. Was als gesamtdeutsche Überlebensgarantie gedacht war, erwies sich als Harakiri. Allmählich eroberten durchideologisierte Kader die Kommandohöhen der Partei und schlugen ihr das östliche Standbein weg.
Die Reduktion der Linkspartei beziehungsweise PDS auf die SED-Nachfolge, auf ein Sammelbecken von Regime-Profiteuren, unbelehrbaren Stalinisten und DDR-Nostalgikern war in dieser Absolutheit falsch. Nicht wenige SED-Mitglieder wären nach dem Ende der DDR gern in die SPD eingetreten – die sie mit Willy Brandt identifizierten –, doch in den aufgeregten Jahren nach 1989 waren entsprechende Bemühungen Egon Bahrs zum Scheitern verurteilt.
Unter den Parteien hatte die PDS ein Alleinstellungsmerkmal als einzige originäre Ost-Stimme. Die Landesverbände von CDU, SPD und FDP waren Anhängsel der Westparteien. Die DDR-Bürgerrechtler hatten sich mit ihrer Ablehnung der Wiedervereinigung früh schachmatt gesetzt und gingen als Bündnis-90-Anhängsel der Grünen endgültig unter. Andererseits war den Parteistrategen der PDS klar, daß sie als reine Ostpartei auf die Dauer keinen Bestand haben würde. Das führte bereits 1990 zu einem halsbrecherischen Spagat, der beim Vergleich ihrer Wahlprogramme vom März und Dezember des Jahres deutlich wird.
Im März 1990 fanden die ersten und letzten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer statt. Die Galionsfiguren der SED-PDS – wie sie damals hieß – waren der brave Ministerpräsident Hans Modrow und der scharfzüngige Gregor Gysi. In die Hochstimmung, in der die Massen sich seit dem Mauerfall befanden, hatten sich bereits erste Sorgen gemischt. Gerüchte über Entlassungen kursierten, und vor Privatgrundstücken hielten Autos mit Westkennzeichen, denen die Alteigentümer entstiegen.
Die SED/PDS stellte sich im Wahlprogramm als „moderne sozialistische Partei“ und Verteidigerin der „sozialen Sicherheit“ vor. „Die Gesundheit, die Freiheiten und Rechte der Bürger sowie das Eigentum in allen Formen sind wirksamer zu schützen.“ Sie forderte, daß „die gesellschaftlichen Werte und Leistungen der DDR nicht aufgegeben werden dürfen, zu denen wir das Recht auf Arbeit, unser System von Kindereinrichtungen, die unentgeltliche Bildung bis zu den Universitäten, genossenschaftliches und Volkseigentum in der Industrie, der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftszweigen (...) zählen“. Auch der Verweis auf die „globale ökologische Krise“ besaß angesichts der Umweltverschmutzung in der DDR Plausibilität. Sogar der „Antifaschismus und Internationalismus“ waren in diesem Kontext annehmbar, denn zurück zu Hitler wollte niemand, und „Internationalismus“ bedeutete nun Reisefreiheit und Wohlwollen für die Nachbarn, mit denen man 40 Jahre Sozialismus geteilt hatte. So kamen die SED-Erben auf immerhin 18 Prozent.
Der Partei ging es auch um kulturelle Selbstbehauptung der DDR. Die aber konnte nicht darin bestehen, im vereinten Deutschland ein – wie Karl Heinz Bohrer spottete – „Kulturschutzgebiet DDR“ zu proklamieren. Stattdessen hätte die DDR die Funktion eines deutschen Katechons, eines Aufhalters, erfüllen können, aus dem einfachen Grund, weil es die autoaggressiven Verrücktheiten der Bundesrepublik, deren zerstörerische Effekte bereits klar erkennbar waren, dort nicht gegeben hatte.
Zu einem solchen dialektischen Selbstverständnis im Prozeß der deutschen Einheit aber war die gescheiterte Staatspartei in ihrer ideologischen Beschränktheit außerstande. Im Wahlprogramm zu den Bundestagswahlen im Dezember machte sie sich den kulturrevolutionären Müll der radikalen Westlinken zu eigen und stellte die ideologische vor die soziale Programmatik. Die PDS nannte sich jetzt eine „linke, radikaldemokratische, ökologische und feministische Kraft“, verlangte die „Überwindung des Patriarchats“, die „Gleichstellung von Minderheiten“, von „Punks, Schwule(n) und Lesben“ sowie Frauenqoten. Sie forderte „(g)leiche Rechte und offene Grenzen für alle“, ein Wahlrecht für Ausländer auf allen Ebenen und ein „Antidiskriminierungsgesetz“, das bis ins Mietrecht hineinwirkt.
Zudem positionierte sie sich gegen „Revanchismus und Deutschtümelei, für die Rechte der AusländerInnen“, für „Antifaschismus und Antirassismus“ und verlangte die „aktive Auseinandersetzung mit neofaschistischen Tendenzen in der Gesellschaft“. Mehr noch: „AusländerInnen und Linke (müssen) antifaschistische Selbsthilfe organisieren“. Auffällig war die konsequente Verwendung des genderistischen Binnen-I. Nun ging es nicht mehr nur um Umweltschutz, sondern um die „ökologische Konversion“ gegen „die sich abzeichnende Klimakatastrophe“. An der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen in den nun östlichen Bundesländern gingen diese Forderungen komplett vorbei.
Es war ein Verrat sowohl am Osten wie am ganzen Land. Rückblickend erkennt man mit Faszination und Schrecken, daß die Linke eben dadurch an das politische System der Bundesrepublik anschlußfähig geworden ist. Ihr Wahlprogramm von 1990 ist heute weitgehend Regierungsprogramm.
Die Wählerschaft im Osten reagierte auf die Re-Ideologisierung mit Befremden. Die PDS kam nur noch auf elf Prozent der Stimmen, bundesweit auf 2,3 Prozent. Da die Wahlgebiete getrennt waren, zog die PDS mit 17 Abgeordneten in den Bundestag ein. Ironie der Geschichte: Ihre Abgeordneten sorgten dafür, daß die Entscheidung in der Hauptstadtfrage für Berlin und gegen Bonn fiel.
Mit dem Image des historischen Verlierers behaftet, schien die PDS sich perspektivisch erledigt zu haben. Doch bei den Bundestagswahlen 1994 kam sie im Osten auf knapp 20 Prozent (bundesweit 4,4 Prozent) und kehrte dank Direktmandaten mit 30 Abgeordneten ins Parlament zurück. Neben einem Wahlkampf, der direkt an die Ost-Gefühle appellierte, trug dazu bei, daß die Wiedereinigung im Osten mittlerweile als Akt der Westdominanz und -arroganz empfunden wurde. Symbolhaft war die Schließung des Kalibergwerks im thüringischen Bischofferode, die gegen erbitterte Proteste zugunsten westdeutscher Marktmacht durchgesetzt wurde. Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) – ein „Wessi“ –, der alles versucht hatte, das Unheil abzuwenden, sprach von der „kalten Fratze“ des Kapitalismus. „Denn damals hatte ich die kalte Fratze des Kapitalismus ja wirklich selbst gesehen. Bischofferode war ein Drama. Für die Ostdeutschen unerklärlich.“
Das Drama bot der PDS die Möglichkeit, sich als Rächer der verletzten Ost-Seelen neu zu profilieren. Das Charisma des Rhetorikers Gregor Gysi verdeckte die kulturellen Gräben, die sich in der Partei inzwischen auftaten. Der Aufbau der PDS-Landesverbände im Westen zog zweifelhafte Figuren an, die die steilen Thesen des 1990er Wahlprogramms beim Wort nahmen und als faschistisch attackierten, was für Bürger im Osten zur Lebensnormalität zählte. Die älteren PDS-Wähler waren die strukturkonservativsten überhaupt. Ausgerechnet die Partei, die ihre aktuellen Wahlerfolge als Verteidigerin des Ostens einfuhr, förderte Kräfte, die fanatisch seine kulturelle Transformation erstrebten. Dieser interne Widerspruch droht die Partei jetzt zu zerreißen.
Der Konflikt spielt sich wesentlich, aber bei weitem nicht nur zwischen Ost und West ab. Es ist auch ein Konflikt zwischen sozialpolitisch orientierten „Realos“, die die Interessen der arbeitenden Schichten im Blick haben, und den „woken“ Fundamentalisten. Letztere beherrschen inzwischen die Parteigremien – eine Folge der Oligarchisierung, die jede Partei ereilt und die jene nach oben spült, welche die Politik als Beruf und Erwerbsquelle statt als Aufgabe und Auftrag verstehen. Sie rufen: „Wir haben Platz“, und meinen ihren Platz im Staatsapparat als Queer- oder Flüchtlingsbeauftragter. Ihr Problem ist nur, daß sie über keine Repräsentanten verfügen, die an das Charisma von Wagenknecht und Gysi heranreichen.
Ihre zeitweiligen Wahlerfolge im Westen verdankt die Linkspartei jedoch eben diesen sozialpolitischen Realos. Im September 2022 trat der kompetente Finanzfachmann Fabio De Masi aus Hamburg aus der Linkspartei aus. Seine Begründung: Er „möchte nicht mehr für das eklatante Versagen der maßgeblichen Akteure in dieser Partei in Verantwortung genommen werden“. Diese ließen eine große Mehrheit der Bevölkerung im Stich, die eine Partei brauche, „die sich für soziale Gerechtigkeit und Diplomatie überzeugend engagiert“. Er habe versucht, seinen Teil zu leisten, aber sei damit gescheitert.
Der Konflikt in der Partei eskaliert vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und des Asylzustroms. Er berührt die autoaggressive Staatsräson der Bundesrepublik, in welche die woken Linksfundamentalisten sich nahtlos einfügen, während die Wagenknecht-Fraktion indirekt eine Gegenposition bezieht. Der politisch-mediale Komplex bemüht sich, die Linkspartei weiter im Spiel – und die AfD schwach – zu halten und die woken Kräfte in der Partei zu stärken.
Anscheinend soll der aus Hessen stammende Bodo Ramelow als integrative Figur installiert werden. Im FAZ-Interview erklärte er die „Anti-West-Haltung“ im Osten mit „Ressentiments, die auf dem größten Konstruktionsfehler der deutschen Einheit basieren: daß Ostdeutsche mit ihren Erfahrungen und ihrem Leben ins Abseits gestellt wurden und nichts an eigenen Emotionen und Ideen in die Einheit einbringen durften“ – „Kindergärten und Polikliniken zum Beispiel“.
Das ist nicht ganz falsch, aber vor allem ist es billig. Denn das Problem liegt tiefer: Der alte Ideologie-Müll im Osten war kaum zur Hälfte entsorgt, da wurde bereits neuer Müll aus dem Westen herangekarrt und abgekippt. Zu den Mülltransporteuren gehört auch Ramelow, dem die Grenzöffnung 2015 den „schönste(n) Tag in (s)einem Leben“ bescherte und der mit dem Satz zitiert wurde: „Ich könnte weinen vor Freude.“
Sorgt woke „Wessi“-Lust für „Ossi“-Frust? Doch Frustration gibt es auch im Westen. Und sie reicht inzwischen über sämtliche Parteigrenzen hinaus. Insofern betrifft der Konflikt in der Linkspartei uns alle.