Aus den Lautsprechern in einem Vorort von Konya in Zentralanatolien dröhnt es aus den Lautsprechern: „Yok Başka Erdoğan“ – „Kein Zweiter wie Erdoğan“. Auf großen Bildschirmen läuft der dazugehörige Werbespot der Partei des so Gefeierten. Martialische Bilder von Waffensystemen und Soldaten wechseln sich ab mit Zeugnissen türkischer Hochtechnologie: Hochgeschwindigkeitszüge, Bohrschiffe und Hängebrücken werden gezeigt. Immer wieder dazwischen eingespielte Bilder von brennenden Autos, vom gescheiterten Militärputsch 2016 und von Demonstranten, die die türkische Fahne verbrennen. Auch der Islam findet seinen Platz, ein Vorbeter in einer Moschee etwa oder Bilder der 2020 zur Moschee erklärten Hagia Sophia.
Doch im Zentrum des Spots steht kein anderer als der „Başkan“ selbst. Der „Chef“ und jedem Zuschauer ist sofort klar, wer gemeint ist: Recep Tayyip Erdoğan. Der Mann also, der die Türkei so stark geprägt hat wie seit Atatürk kein Zweiter. Hier, in einer der Hochburgen der AKP, der „Partei für Recht und Fortschritt“, präsentiert sich der Amtsinhaber als personifizierte Vereinigung von Schwert und Turban. Religion, Militär und Wirtschaft arbeiten in der Vorstellung seiner Anhänger Hand in Hand für nationale Größe.
Seinen Gegenkandidaten, Kemal Kılıçdaroğlu, erwähnt hier niemand. Denn für die Anhänger Erdoğans in Konya ist nicht der wenig charismatische Herausforderer der Feind, sondern die, mit denen er sich aus ihrer Sicht verbündet hat. Darunter Putschisten, Gülenisten und vor allem: Kurden. Ein „Kampf um das Bestehen der Türkei“ sei der anstehende Wahlgang, meint der freundliche Gebäckverkäufer an einer Straßenecke. Aber man müsse sich keine Sorgen machen, hier auf dem Land seien alle „Soldaten Erdoğans und Atatürks“.
Fünfhundert Kilometer weiter, in Istanbul, präsentiert sich die AKP hingegen mit einem englischen Slogan. Das Video wirkt freundlich und vergleichsweise friedlich, unterlegt mit einem englischen Text und westlicher Popmusik wirbt man hier immer wieder um „Respekt“. Im Video: kaum Kopftücher, weniger Waffen, dafür spielende Kinder und eine heitere Stimmung. „Wir sind die Träumer, die den Traum wahr machen“, singt der Sänger. Die Vorstellung einer westlichen Türkei, die friedlich von Wohlstand für alle träumt. Es ist kein wirklicher Kontrast zu den Soldaten, Drohnen und Bohrplattformen aus Konya, aber es ist doch ein anderes Bild, das hier vermittelt werden soll. Erdoğan, der von einer besseren Türkei für alle träumt. Erdoğan, der diese bessere Türkei umsetzt, in der alle leben können – mit oder ohne Kopftuch – und in der alle respektiert werden.
Der Wahlkampf von Erdoğan und seiner Partei spiegelt in seinen unterschiedlichen Botschaften eine Türkei wieder, die sich stärker als früher zwischen mehreren Welten wiederfindet. Auf der einen Seite die alte, urbane Ober- und Mittelschicht, die sich als Erbin des Kemalismus versteht und nach Europa strebt. Auf der anderen Seite die neue etablierte Ober- und Mittelschicht, die unter Erdoğan zu Geld und Einfluß gekommen ist.
Auch diese Türken verstehen sich als Erben von Kemal Atatürk – aber eben auch als treue Anhänger Erdoğans, der aus ihrer Sicht die moderne Türkei mit ihrem sunnitischen Erbe versöhnt und das Land in eine aufregende neue Zukunft der kulturellen und geopolitischen Eigenständigkeit geführt hat. Diese neue türkische Mittelschicht will nicht nach Europa, von dem sie sich gedemütigt und abgestoßen fühlt, sondern in ein „neues türkisches Zeitalter“, wie es der Staatssender TRT in nur mühsam verhohlener Werbung für den Amtsinhaber ankündigt. Unterstützt wird sie dabei von einer patriotisch gesinnten Schicht aus Arbeitern, Handwerkern und natürlich der Landbevölkerung. Besonders für diejenigen am unteren Ende der türkischen Gesellschaft ist Erdoğan nicht nur der umsichtige und visionäre Staatenlenker, sondern oft der „Baba“ – der Vater.
Das Image des väterlichen Modernisierers erhält Kratzer
Der Präsident fühlt sich in diesen Rollen sichtlich wohl, jede große Eröffnung eines Verkehrsweges wird von ihm persönlich auf Twitter verkündet, „145 Milliarden Lira“ habe seine Regierung in Antalya allein investiert, darunter vier Universitäten, ein Flughafen, Krankenhäuser und Schulen. Im ganzen Land wiederholt sich das Muster, die Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerks des Landes in Akkuyu verkündete der Präsident mit demselben Stolz, mit dem er auch auf einer Luftwaffenbasis neue Kampfdrohnen signierte.
Erdoğan ist überall, so die Botschaft. „Gesundheitsvorsorge, Infrastruktur, Energieversorgung: Wir verändern das Leben unserer Landsleute im Schnellverfahren“, verkündet er und kann sich dabei auf die große Führerfigur der Türken verlassen, denn auch Atatürk kannte in seinem Modernisierungsdrang kein Halten.
Es wiegt daher für Erdoğan doppelt schwer, wenn ihn einige wegen mangelnder Vorsorge bei eben dieser Modernisierung kritisieren. Denn das Erdbeben im Winter hat brutal die gravierenden Baumängel aufgedeckt, die viele der im Schnellverfahren hochgezogenen Infrastrukturprojekte im ländlichen Raum mit sich gebracht haben. Doch die Kritik vieler im Land geht noch deutlich weiter. Mit seiner Nullzinspolitik des billigen Geldes habe der Präsident das Land in die Armut gestürzt, sagen vor allem Fachleute. Beide Vorwürfe treffen das sorgfältig gepflegte Image des väterlichen Modernisierers und wirtschaftsfreundlichen Führers hart.
Auf die mangelnde Katastrophenvorsorge im Erdbebengebiet angesprochen, räumte er damals Versäumnisse ein. Eine Seltenheit im Umgang des selbstbewußten Türken mit der medialen Öffentlichkeit. Die Hauptschuld für die Rekordinflation sieht er aber im Ausland. „Ausländische finanzielle Interessen“ seien am Werk, polterte er im Frühjahr.
Bei einigen verfängt die Rhetorik, die Türkei als erfolgreicher Staat, der unter Erdoğan „zwei Jahrzehnte in zwei Jahren“ aufgeholt habe, ziehe eben „Neider“ auf sich, wie es der Staatschef selber ausdrückt. Doch viele, die von der Niedrigzinspolitik profitiert haben, erkennen langsam, daß die Zeit der ungebremsten Entwicklung fürs erste vorbei ist. Besonders die Mittelschicht leidet unter den steigenden Lebenshaltungskosten und unter den dramatisch steigenden Mieten. Hinzu kommt, daß Wohnraum besonders in den Städten knapp geworden ist. Die Kriege in Syrien und der Ukraine haben Migranten in die Städte gespült, die nun mit Einheimischen um Wohnraum und Arbeit konkurrieren.