Herr Weißgerber, denken Sie an die Sozialdemokratie in der Nacht, dann ...
Gunter Weißgerber: ... bin ich um den Schlaf gebracht.
Warum, Sie sind doch längst raus?
Weißgerber: Mein Name schon, aber nicht mein Herz.
Für Sie ist das also mehr als nur Politik – für Sie ist das Leidenschaft?
Weißgerber: Wissen Sie, ich war schon Sozialdemokrat, bevor ich einer wurde.
Wie das?
Weißgerber: Mit dem Herzen! Willy Brandt, Helmut Schmidt, Entspannungspolitik und Nato-Doppelbeschluß, die bei Erhalt der Verteidigungsbereitschaft zu Abrüstung und neuem Vertrauen zwischen Ost und West führten, aber auch Chancengleichheit für alle Bürger! Das war es, was früh meine Leidenschaft für die Sozialdemokratie erweckte!
In der DDR beanspruchte die SED, deren Erbe zu sein.
Weißgerber: Freunde haben mich unlängst daran erinnert, schon in der Schule hätte ihnen anvertraut, daß ich am liebsten in die SPD eingetreten wäre, wäre mir das nur möglich gewesen, da Sozialdemokratie und deutsche Einheit zusammengehörten – in die SED dagegen niemals!
Zwölf Jahre später wurden Sie nicht nur Mitglied, sondern haben die SPD sogar mitgegründet. Und das, obwohl es die Partei damals schon über hundert Jahre gab. Wie haben Sie dieses Kunststück fertiggebracht?
Weißgerber: Am 7. Oktober 1989 rief eine Gruppe Dissidenten in Schwante bei Berlin die Sozialdemokratische Partei ins Leben. Statt uns ihnen nur einzeln anzuschließen, gründeten wir die SDP in Leipzig. Das Entstehen der Sozialdemokratischen Partei hatte doppelte Brisanz, denn wir waren nicht nur Opposition, sondern zielten zudem mit unserem sozialdemokratischen Selbstverständnis direkt auf die Zerstörung der SED, da wir ihren Mythos konterkarierten, als Einheitspartei aus KPD und SPD sei sie Erbe der letzteren. Und bald gab es kein Halten mehr: Freiheit, Demokratie, die deutsche Einheit, die EG und die Nato kamen. Der Traum wurde mit dem Ende der DDR Wirklichkeit, und an all dem wirkten Sozialdemokraten in Ost und West, die sich 1990 wieder zur gesamtdeutschen SPD zusammenschlossen, mit. Und daß die Sozialdemokratie ganz vorne mitmischte, dafür wollte ich einen Beitrag leisten. Auch deshalb zog es mich an die Mikrofone der Friedlichen Revolution.
Wo Sie von November bis März 1990 Redner der SDP, später SPD, auf den Leipziger Montagsdemonstrationen waren. Wie aber kam es bei so viel Hingabe zur Entfremdung von Ihrer großen Liebe?
Weißgerber: Wie in schlechten Ehen leider üblich über die Jahre. Um aber ehrlich zu sein, ich hatte mich schon Jahre vor meinem Austritt am 7. Februar 2019 nicht mehr engagiert, mich eigentlich nur noch mit Kritik gemeldet.
Auf die wie reagiert wurde?
Weißgerber: Gar nicht, die Kommunikation mit der Parteiführung war sehr einseitiger Natur: Ich schrieb – und sie antwortete nicht. Es interessierte in der SPD niemanden mehr, was alte Sozialdemokraten an Hinweisen und Ratschlägen gaben.
Ist das aber nicht überall so? Haben die Jungen erst mal übernommen, haben die Alten nichts mehr zu melden.
Weißgerber: Sicher, ich bilde mir auch nicht ein, ich sei der einzige, dem es so ergangen ist, und es war ja auch nicht der Grund meines Austritts. Aber so wie ich der SPD, so hat auch sie uns einiges zu verdanken: Angefangen damit, daß sie durch uns Teil der Friedlichen Revolution wurde, wovon die Partei zumindest bei uns in der Region Leipzig viele Jahre zehrte. Über die fast zwanzig Jahre, die ich als Bundestagsabgeordneter in ihrem Namen für die Interessen der Ostdeutschen während des historischen „Zusammenwachsens, was zusammengehört“ gestritten habe, und die Erfolge für den Standort Ostdeutschland, die sie sich durch meinen Einsatz an die Fahne heften konnte, bis hin zur Aktualisierung des „Berliner Programms“ auf dem Leipziger Parteitag 1998. Und nur zur Erinnerung: Zu unserer Zeit fiel die Partei weder in Richtung fünfzehn Prozent ab, noch waren für die SPD bei uns in Sachsen Direktmandate so etwas Phantastisches wie Fabelwesen. An der ostdeutschen Sozialdemokratie war in der SPD zwei Jahrzehnte nicht gut vorbeizukommen. Heute versucht die Partei Wahlergebnisse mittels politischer Kungelei herbeizureden, notfalls unter völligem Verzicht auf eigene Ansprüche. Allerdings war auch das nicht der Grund für meinen Austritt. Denn so etwas läßt sich irgendwie aushalten. Es schmeckt zwar schlecht, es riecht zwar schlecht – aber es könnte schließlich wieder vergehen. Die Gretchenfrage aber lautet: Sind die Differenzen temporär oder grundsätzlicher Natur?
Und?
Weißgerber: Solange man zu mindestens 51 Prozent mit seiner Partei übereinstimmt und diese ihre Grundwerte nicht verrät, kann man an Bord bleiben. Denn zum einen sind Parteien unverzichtbar, da Vollversammlungen der über sechzig Millionen deutschen Wahlberechtigten nun mal nicht machbar sind. Zum anderen sind politisch strittige Themen und Personalien schließlich nur temporär. Auf was es dagegen ankommt, das ist sozusagen die DNS einer Partei! Und zu diesem Erbgut der deutschen Sozialdemokratie gehörten über anderthalb Jahrhunderte Freiheit und Demokratie, inklusive des Frauenwahlrechts, aber auch Standortpolitik, Wissenschaftsaufgeschlossenheit und Chancengleichheit. Und es ist diese DNS, die die SPD nachhaltig und für lange Zeit, wenn nicht irreversibel verändert hat.
Der konkrete Anlaß Ihres Austritts war die Drohung der Partei, gegen den Artikel „Zeitungen, auf die die SPD heimlich und indirekt Einfluß nimmt / Wie SPD in die Zeitungen kommt“ des Magazins „Tichys Einblick“ vorzugehen. Aber darf man sich gegen schlechte Presse denn nicht wehren?
Weißgerber: Kritik gefällt niemandem, das ist natürlich völlig nachvollziehbar. Aber das war ein gut recherchierter Beitrag über die Medienmacht der SPD – die ich übrigens vor dem Hintergrund der Verbote der Partei im Kaiserreich, NS-Staat und in der DDR immer verteidigt habe! Zur Erbinformation der Sozialdemokratie gehört aber auch die Meinungs-, Demonstrations- und Pressefreiheit. Und mit diesem Fall hat die Partei diese Wurzeln preisgegeben und ist endgültig auf die Seite derer gewechselt, unter denen sie selbst so oft in ihrer Geschichte zu leiden hatte, die Freiheit nur für sich selbst beanspruchen, ihren Kritikern aber repressiv begegnen! Voltaire hat dazu einmal alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt: „Das Recht auszusprechen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, daß jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht sagen dürften!“
Der Fall ist nun vier Jahre her, und die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles ist nicht mehr im Amt. Was ist mit der SPD von heute?
Weißgerber: Leider sind die mit den Hufen trappelnden Fohlen hinter der Generation Nahles bereits dabei, eine bessere Zukunft der SPD noch stärker zu zertrampeln. Denn man kann die Gene, die Sozialdemokratie ausmachen, im Grunde auch auf einen Strang reduzieren – und eben diesen hat die SPD gekappt: Sie ist nicht mehr solidarisch!
Bitte konkret?
Weißgerber: Die SPD ist nicht mehr solidarisch mit den einfachen Leuten, den Facharbeitern, Meistern, aber auch Ingenieuren und Wissenschaftlern, die durch ihre Politik in Existenznot kommen. Tatsächlich verachtet sie die Nöte der Bevölkerung inzwischen sogar, die die Folgen ihrer Politik tragen muß. Es ist nicht zu fassen, daß die genveränderte Partei nicht einmal mehr die Energiekosten als brennende soziale Frage begreift! Im Gegenteil sogar, seit Jahren ist sie bestrebt, diese und andere Kosten unnachgiebig in die Höhe zu treiben. Ebenso unfaßbar: Früher wäre es keinem Politiker, erst recht keinem Sozialdemokraten, je in den Sinn gekommen, ganze Industriezweige zum Tode zu verurteilen, indem man ihre Zerstörung planvoll herbeiführt! Den Metall- und Chemiestandort Deutschland ramponiert die SPD seit Jahren, nun ist sie dabei, auch noch den Automobilstandort Deutschland zu zerstören!
Warum tut sie das?
Weißgerber: Wegen ihres neuen Kultobjekts, der Energiewende. Unter dem geradezu religiös zelebrierten Vorwand, die Welt und das Klima retten zu wollen, opfert die SPD brachial die Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Zum einen ist die Partei, die vormals stolz auf ihre Politik des sozialen Ausgleichs mit Augenmaß war, damit heute einer der schlimmsten Verursacher der Umverteilung von unten nach oben – hin zur grünen Schickeria! Zum anderen sorgt sie dafür, daß unsere Volkswirtschaft reglementiert, gegängelt und abgeschnürt wird. Mit dem sogenannten Kohlekompromiß etwa hat die SPD überdeutlich gezeigt, daß sie inzwischen an die Kommandowirtschaft glaubt. Offensichtlich hat man aus deren Scheitern im Ostblock nichts gelernt! Derzeit erbaut man sich in der SPD an der komplizierten Treuhandbilanz, ohne zu erkennen, daß man mit dem Kohlekompromiß an der Herbeiführung der nächsten Treuhandanstalt werkelt.
Sie kritisieren, die SPD sei auch nicht mehr mit den Leistungswilligen solidarisch. War sie das denn jemals?
Weißgerber: O ja, sie hat sich ja schon im Kaiserreich für den Revisionismus entschieden: also Bernstein statt Marx! Nicht erst seit Gerhard Schröder, schon seit Ferdinand Lassalle war die SPD eine Partei des „Förderns und Forderns“. Und zuletzt bestärkte sie dieses Prinzip eben mit der Agenda 2010. Doch statt dieses Prinzip weiterzuführen, geht sie nun zum paternalistischen Fürsorgestaat über. Und darin liegt eine weitere große Sünde wider den Geist der Sozialdemokratie: Die SPD ist nicht mehr solidarisch mit dem Individuum, und das bedeutet: mit der Freiheit. Denn inzwischen will die SPD alles, jede Organisation, jede Firma, jede Institution und jedes Individuum steuern: Die Menschen sollen erzogen werden! Damit aber wandelt sie auf den ausgetretenen und längst gescheiterten Pfaden des Totalitären – und ist eine Partei der Hybris! Genau dieses Modell jedoch war es aber, gegen das 1989 in Ostdeutschland Millionen auf die Straße gingen. Und darauf setze ich auch meine Hoffnung: Den Deutschen im Osten sind die planwirtschaftlichen Erfahrungen noch präsent. Einen Markt für die neuen sozialistischen Märchen der SPD gibt es da nicht.
Innenministerin Faeser wollte die Beweislast bei Verfahren gegen Beamte umkehren und schlug vor, Bürger sollten sich zum Demonstrieren nicht öffentlich versammeln, sondern das zu Hause tun. Die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli forderte jüngst sogar die gesetzliche Einschränkung der Meinungsfreiheit. Müßten der Kanzler und die Parteichefs da nicht einschreiten?
Weißgerber: Was erwarten Sie, die SPD hat sich ja auch bereits auf die Seite der linken Diktaturleugner geschlagen. Beleg dafür ist etwa die Forderung aus der Umgebung der vormaligen Parteivorsitzenden, mit der „Antifa“ zu kooperieren. Dabei weiß man ganz genau, daß die „Antifa“ als eine Art ausgelagerte Stasi fungiert, die die Bevölkerung einschüchtern und kontrollieren will! 1989 skandierten viele Ostdeutsche „Demokratie – jetzt oder nie!“ und meinten damit einen demokratischen Staat ohne Attribute wie „sozialistisch“, „völkisch“ oder „antifaschistisch“. Diesen antitotalitären Konsens hat die SPD verlassen. Und im Zuge dessen hat sie sich auch vom allgemeinen, freien, geheimen und unmittelbaren Wahlrecht abgewandt.
Inwiefern denn das?
Weißgerber: Indem sie eine chromosomendeterminierte Vorauswahl installiert, will sie das freie Direktwahlrecht einschränken, für das auch Hunderttausende Sozialdemokraten Leben und Kraft eingesetzt haben, was dessen Verkrüppelung gleichkommt und zur Parteienoligarchie führt. Das ist Wählerverachtung statt mehr Mut zur freien Wahl! In der DDR war so ein „Wahl“-Verfahren der Grund, daß Millionen dagegen auf die Straße gegangen sind. Heute wünsche ich der SPD von Herzen einen entsprechenden Denkzettel in der Wahlkabine.
Was meint „chromosomendeterminierte Vorauswahl“?
Weißgerber: Einen Rassismus von links, bei dem es nicht mehr darum geht, was jemand leistet, sondern was er biologisch ist – beziehungsweise mitunter auch sich einbildet zu sein. Ebenso zeigt er sich etwa bei den Frauenrechten: Nach anderthalb Jahrhunderten Kampf für die Rechte der Frau ist die SPD heute nicht mehr solidarisch mit allen Frauen, sondern nur noch mit denen, die sie per woker Definition als Frauen gelten läßt. Frauen der moslemischen Welt dagegen, die sich nicht unter einem Stück Stoff verstecken, ihre Töchter nicht als Kinder verheiraten wollen und um Gleichberechtigung kämpfen, versagt sie nahezu komplett die Unterstützung. Das gleiche gilt für aufgeklärte Moslems sowie Deutsche jüdischer Religion. Statt erstere zu fördern, hält es die SPD lieber mit den konservativen Vertretern des Islam, womit sie genau jene Moslems gefährdet, denen Integration und Grundgesetz wichtig sind. Und jüdischen Mitbürgern mutet sie das Hinzukommen Hunderttausender zu Antisemiten erzogenen Menschen zu. Deutschland wird so durch den tatkräftigen Beitrag der SPD erneut zu einem Staat, in dem Juden um Leben und Sicherheit bangen müssen. Der alte Antisemitismus bekommt vor allem auch durch die SPD ungeahnte Verstärkung!
Die SPD hat sich, wie Sie dargestellt haben, in vielerlei Hinsicht große historische Verdienste erworben. Wollen Sie sagen, davon bleibt nichts übrig?
Weißgerber: Als Sozialdemokrat ohne Parteibuch glaube ich, gegen die Sozialisten in der jetzigen SPD ist kein Kraut mehr gewachsen. Die Festung ist gefallen. Und Entsatz ist nicht in Sicht. Auf der Fahne meiner ehemaligen Partei prangt heute die Parole „Sozialismus und Gesellschaftsarchitektur“, und echte Sozialdemokraten werden sich um dieses Banner in nennenswerter Zahl gar nicht mehr scharen.
Gunter Weißgerber, war ab 1990 Mitglied der frei gewählten DDR-Volkskammer sowie des gesamtdeutschen Bundestages – seit 1998 als Direktkandidat des Wahlkreises Leipzig II –, wo er bis 2005 die Landesgruppe Sachsen in der SPD-Fraktion führte. Zur Bundestagswahl 2009 trat er aus persönlichen Gründen nicht mehr an. 2019 verließ er die SPD im Protest. Geboren wurde der Ingenieur und Unternehmensberater 1955 in Mildenau im Erzgebirge.
Foto. Weißgerber: „Die Partei ist nicht mehr solidarisch, will Menschen erziehen, hat den antitotalitären Konsens verlassen, sich vom direkten Wahlrecht abgewandt und begegnet ihren Kritikern repressiv“