Eine der zahlreichen Pointen des Buches „Die gespaltene Gesellschaft“ erwartet den Leser bereits im letzten Absatz der Einleitung, die vielsagend mit „Die Angstlust an der Spaltung“ überschrieben ist: Das Autorenduo Jürgen Kaube, FAZ-Herausgeber, und André Kieserling, Soziologie-Professor in Bielefeld, will zeigen, daß von einer Spaltung der Gesellschaft gerade nicht die Rede sein könne, ungeachtet steter politischer, medialer oder anderweitiger Behauptungen. Werde der Begriff Spaltung ins Feld geführt, so diene dies „einerseits vor allem dazu, Aufmerksamkeit für bestimmte Konflikte und Interessen zu erzeugen und dabei von der Tatsache abzulenken, daß es derzeit keinen dominanten gesellschaftlichen Konflikt gibt“ und andererseits dazu, „das Unterlassen politischer Entscheidungen zu rechtfertigen“.
Bevor gegen Ende des Buches in einem kurzen Exkurs „die Wirklichkeit tatsächlich gespaltener Gesellschaften“ am Beispiel Nordirlands skizziert wird, richten Kaube und Kieserling ihren Fokus vor allem auf Deutschland und die USA. Betrachtet wird eine Reihe von Komplexen, die Ansatzpunkte für die Vermutung einer gespaltenen Gesellschaft bieten könnten. Bezüglich der Situation in Deutschland wird dies definitiv zurückgewiesen, für die USA sieht es nicht ganz so gut aus, aber hier bleiben die Urteile etwas diffus.
Für die Theorie wird dem Leser ein wenig historisch-soziologisches Proseminar-Rüstzeug geboten, unter anderem die von Ferdinand Tönnies eingeführte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft oder das aus der niederländischen Forschung stammende Säulenmodell. Mit diesem konnte verdeutlicht werden, daß es innerhalb der niederländischen Gesellschaft zeitweise möglich war, ein weltanschaulich abgeschottetes Leben zu führen; so standen beispielsweise dem Katholiken durchweg katholische Organisationen zur Verfügung, der private Umgang beschränkte sich ebenfalls auf Glaubensgenossen. Später gab es Versuche, mit diesem Modell auch andere Gesellschaften zu beschreiben. Vor allem aber fühlen sich die Autoren dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann verpflichtet, auf den sie sich immer wieder beziehen, wenn sie ihre These von der nicht vorhandenen Spaltung der Gesellschaft stark machen. So erkenne man nach Luhmann „die Legitimität einer politischen Entscheidung gerade daran, daß man ihr auch unüberzeugt folgen kann, weil sie nur gesinnungsbeliebiges Handeln abverlangt“. Zudem habe er auf die „Zusammenhanglosigkeit der politischen Rollen“ verwiesen.
Inzwischen peinlich anmutende Weisheiten über Corona-Politik
Derartiges ist für Kaube und Kieserling der Dreh- und Angelpunkt ihrer Erklärung: Durch Ausdifferenzierung und wechselseitige Eingebundenheiten nahezu jedes Einzelnen in die Gesellschaft sei die Gefahr einer Spaltung nicht gegeben. Konflikte gebe es schon, aber eben nur Konflikte. So etwa seien bei der Auseinandersetzung über den Umgang mit Corona keinesfalls zwei gesellschaftliche Blöcke auszumachen, die sich klar abgrenzbar gegenüberstehen würden. Anonym im Internet geäußerter Unmut bleibe „normalerweise in expressivem Handeln stecken“. Die Tatsache, daß sich Wählerstimmen immer weniger auf große Parteien konzentrieren, sei positiv zu bewerten. Daher seien die Parteien zu Kooperation gezwungen. Durch Medien und Demoskopie werden Wahlkämpfe über den entsprechenden Termin hinaus verlängert, was den – natürlich irrigen – Eindruck einer Spaltung vermittle. Die Gesellschaft sei zugleich Klassen- und Nichtklassengesellschaft, was einer Spaltung klar entgegenstehe. Identitäten gebe es nicht, sondern lediglich „Identitäts-Gerede“. Und auch mit den Parallelgesellschaften kann es nicht ganz so arg sein, denn die „Inklusion der Migranten in die Leistungsrollen der Funktionssysteme entrückt sie den partikularistischen Forderungen ihrer Community“.
Mit der Vermutung, bei dem Buch handle es sich mehr um eine politische Botschaft als um eine Analyse, liegt man sicher nicht ganz falsch. Der amtierende Bundespräsident hatte es ja auch schon festgestellt: Wir leben im „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“. Dazu gehört für Kaube und Kieserling auch die Verteidigung des offiziellen Corona-Kurses – auf eine Art und Weise, die persönliche Befindlichkeiten nahelegt und inzwischen wohl auch einem Regierungssprecher peinlich wäre. Da erzählten viele „Anekdoten von Impfnebenfolgen“, „Impfzweifler pochen auf ein Recht zur Unvernunft“ und „nennen es ein Freiheitsrecht, wenn sie es ablehnen, sich impfen zu lassen“. Tief blicken läßt die vorwurfsvolle Formulierung, daß die Entscheidungen zur Corona-Bekämpfung „ganz leicht“ Kritiker angezogen hätten, „die ganz grundsätzlich etwas gegen die Art haben, wie in modernen Gesellschaften kollektiv verbindliche Entscheidungen herbeigeführt werden“. Die von den Autoren offenbar favorisierte Gesellschaft könnte man auch anders bezeichnen, „modern“ trifft es nicht so ganz.
Daß Donald Trump in den Kapiteln, die die USA thematisieren, ausschließlich als eine Art politischer Unfall erscheint, überrascht nicht. Geht es in diesen Abschnitten um Polarisierungstendenzen – etwa, daß es genüge, sich gegen ein Vorhaben auszusprechen, nur weil der Gegner sich positiv damit identifiziere –, fühlt man sich unwillkürlich an die eine oder andere AfD-Initiative erinnert, die in genau dieser Form abgelehnt wurde. Aber so weit reicht der Blick der Autoren dann doch nicht. Dafür gibt es am Ende die Kurzfassung einer Studie über ein britisches Industriegebiet. Die Alteingesessenen mochten die Zugezogenen nicht so recht integrieren, man pflegte Vorurteile. Die Zugezogenen seien dann – selbstverständlich – in eine Abwehrhaltung verfallen. Diese Passage ist das vergleichsweise subtile Sahnehäubchen im Botschaftsreichtum des Buches.
Jürgen Kaube, André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft. Rowohlt Verlag, Berlin 2022, gebunden, 286 Seiten, 24 Euro