Der Frankfurter Universitätscampus ist weiträumig und unübersichtlich. Doch diesmal fiel die Orientierung leicht. Man mußte nur darauf achten, wo die Polizeifahrzeuge standen, die Leute vom Sicherheitsdienst tätig waren und die akademische Jugend ihre Parolen einstudierte, um das Gebäude zu finden, in dem sich die Leute trafen, die unter dem Titel „Migration steuern, Pluralität gestalten“ Alternativen zur herrschenden Tatenlosigkeit erörtern wollten. Eingeladen hatte die Ethnologin Susanne Schröter, gekommen waren unter anderem der Konstanzer Völkerrechtler Daniel Thym, der Migrationswissenschaftler Ruud Koopmans aus Berlin und Hans-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.
Der martialische Aufwand der Polizei war nötig, weil der AStA das Thema für gefährlich hielt. Schon das Wort „steuern“ war ihm übel aufgestoßen, und so hatte er seine Getreuen nicht nur zum Boykott, sondern zum Widerstand, zum aktiven Widerstand aufgerufen, der in gewohnter Weise, mit albernen Reden und zeitgemäß variierten Sieg-Heil-Rufen, dann auch geleistet wurde. Wo die Linken in der Hochschulpolitik das Sagen haben, steht es schlecht um die akademische Freiheit. Also auch in Frankfurt.
Für sie heißt Fortschritt: alles muß bleiben wie es ist. Am Petersberger Kompromiß, mit dem das Asylrecht seinerzeit aus den Angeln gehoben worden war, darf sich nichts ändern, auch wenn die Regelung nichts taugt. Da es ein brauchbares Einwanderungsrecht nicht gibt, wahrscheinlich auch nicht geben soll, nimmt der wohlberatene Migrant den Umweg über das Asyl. Dann gilt er als Geflüchteter, als Schutzsuchender oder Schutzbedürftiger und genießt Vorteile, die ihm nicht zustehen, ihm aber auch nicht abgenommen werden können, denn das wäre inhuman.
Völlig zu Recht wird das deutsche Asylverfahren als Lotteriespiel bezeichnet. Alles kommt darauf an, die Grenze zu erreichen und das Wort „Asylum“ über die Lippen zu bringen. Dann eröffnet sich dem Sprecher eine Perspektive, die meistens so aussieht: 15 Monate Wartezeit in einer anonymen Großeinrichtung, materiell auskömmlich, mit allem anderen aber schlecht versorgt. Ohne Arbeit, ohne Familie und ohne Heimat, überwacht und drangsaliert von einer Bürokratie, die es gewohnt ist, Menschen wie Sachen zu verwalten, verliert der Asylant das Vertrauen in den gerechten Lauf der Welt. Als Ethnologin sprach Susanne Schröter, die in Frankfurt Regie führte, von einem Kulturschock, der Bluttaten wie die in Brokstedt oder Illerkirchberg zwar nicht entschuldigt, aber doch erklärt. Geändert werden darf trotzdem nichts, denn das wäre inhuman.
Alternativen werden von jenen bestritten, die sie nicht wollen
Natürlich geht es auch anders. Alternativen gibt es immer, bestritten nur von denen, die sie nicht wollen. Wie sie aussehen, erläuterte Sandra Kostner, Pädagogin aus Schwäbisch Gmünd, am Beispiel des australischen, punktebasierten Einwanderungsverfahrens. Die Australier haben die Latte hochgelegt, sie belohnen Bildungsabschlüsse, Berufserfahrung und Sprachkenntnisse, machen es also in jeder Hinsicht anders als die Deutschen, die „Potentiale“ auch dort entdecken, wo es keine gibt, zum Beispiel bei den Frankfurter Studenten. Die Anforderungen müssen gesenkt, dürfen auf keinen Fall erhöht werden, denn das wäre inhuman.
Die Deutschen tun sich einiges zugute auf ihren Ruf als Herolde der Humanität und wollen ihn bewahren. Deswegen begrüßen sie die kleinen und die großen Paschas, die Kinder verheiraten, Frauen verachten und Schwule verfolgen, die Blutrache üben und die Theokratie für eine zeitgemäße Regierungsform halten. Mit dieser Politik stoßen sie in Europa allerdings auf wenig Verständnis und noch viel weniger Sympathie. Südländer wie die Spanier, die Italiener oder die Griechen verstehen unter Humanität etwas anderes als Deutschland und betreiben eine stille, aber zähe Abschreckungspolitik, ziemlich unabhängig von Brüssel. Giorgia Meloni wird ihnen aus dem Herzen gesprochen haben, als sie meinte, daß es doch humanitärer sei, schrottreife Boote gar nicht erst losfahren zu lassen als Menschen in Seenot aus dem Wasser zu ziehen.
Der britische Premierminister Rishi Sunak denkt offenbar ähnlich. Ein neues Einwanderungsgesetz, das dieser Tage das Unterhaus passierte, läuft auf nichts anderes als Abschreckung hinaus. Wer damit rechnen muß, als Illegaler nicht nur aufgegriffen und festgesetzt, sondern in aller Eile nach Afrika zurückgeschickt zu werden, wird nicht so bald versuchen, im Schlauchboot den Ärmelkanal zu überqueren. In Deutschland sieht es anders aus. Hier dürfte die Zahl der ausreisepflichtigen, aber geduldeten oder abgetauchten Ausländer irgendwo zwischen gut 300.000 und einer knappen Million liegen; beide Zahlen waren in Frankfurt zu hören. Genaueres weiß offenbar kein Mensch. An diesem Zustand wird sich auch nichts ändern, solange die gegenwärtige Regierung im Amt bleibt. Alles spricht dafür, daß die Rückführungsoffensive, im Koalitionsvertrag groß angekündigt, ein leeres Versprechen bleiben wird.
Bund wälzt die Folgen seiner Gestaltungsunwilligkeit ab
Wer trotzdem auf Erfüllung drängt, gibt sich als Nazi zu erkennen. In Frankfurt war es Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, dem diese undankbare Rolle zufiel. Das akademische Proletariat hatte aufgepaßt und ihn mit rhythmischem Händeklatschen empfangen, begleitet von dem Slogan „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda“. Da Palmer derselben Ansicht war, reihte er sich ein und klatschte mit. Ein solches Recht, ließ er die Demonstranten wissen, kann es nicht geben, genausowenig wie das Recht, andere Nazis zu nennen. Was es hingegen gibt, ist das Recht auf Dummheit. Es ist das erste von allen Bürgerrechten, überall gern genutzt, auch von Studenten. Das hatte Palmer übersehen, und das bekam er zu spüren.
Nach manchem Hin und Her hatten sich die Demonstranten dazu entschlossen, zwei von ihnen, quotiert nach Alter und Geschlecht, in den Tagungsraum zu schicken, um den Versammelten eine Botschaft zu überbringen. Was allerdings mißlang, weil sich die Botschafter als unfähig erwiesen, die Botschaft, wenn sie denn eine mit sich führten, verständlich vorzutragen. Nach zehn Minuten war der Spuk vorbei, die Versammelten atmeten auf und schickten sich an, das unterbrochene Gespräch fortzusetzen; doch da erwies sich, daß Susanne Schröter ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte. Denn jetzt sah der Moderator die Gelegenheit zu einem großen Auftritt gekommen – und griff zu.
Als Rächer der Verdammten verlangte er von Palmer in scharfem Ton, sich für den Gebrauch des N-Wortes zu entschuldigen. Vergeblich erinnerte Palmer daran, daß der Wortgebrauch zunächst einmal ein Sprechakt sei, dessen Bedeutung sich erst im Zusammenhang erschließe. Umsonst sein Hinweis darauf, daß das Wort Neger die ihm pauschal unterstellte, durchweg abfällige Bedeutung zumindest in Europa nie besessen habe. Es half ihm alles nichts. Der Jagdhund, stolz auf seine Beute, ließ nicht mehr los, erklärte wütend, daß er mit Palmer nichts mehr zu tun haben wolle, und verließ türenschlagend den Raum. Palmer, an solche Aufritte offenbar gewöhnt, blieb ruhig und berichtete von den Erfahrungen, die er als Oberbürgermeister mit Politikern gemacht hatte, die nicht tun, wozu sie da sind, nämlich steuern. Der Bund wälzt die Folgen seiner Gestaltungsunwilligkeit auf die Länder ab, die Länder auf die Kommunen, die, überfordert wie sie ohnehin schon sind, auch noch die letzte Möglichkeit verlieren, die Konsequenzen dieser Tatenlosigkeit pragmatisch abzufedern. Alles für alle, sagte Palmer, das können wir uns nicht mehr leisten: ein konservativer Standpunkt, den er als Grüner, der er vor seinem am gleichen Wochenende folgenden Parteiaustritt noch war (Seite 4), aber teile.
Als alles vorbei war, versuchte der Hessische Rundfunk, aus einer akademischen Posse einen Skandal zu machen. Seither wird Palmer mehr oder weniger ultimativ dazu aufgefordert, sich für den Gebrauch des N-Wortes zu entschuldigen. Dazu besteht jedoch kein Anlaß – es sei denn, man wolle Autoren wie Mark Twain, Joseph Conrad oder Prosper Mérimée eine Entschuldigung dafür abverlangen, daß sie von Negern geschrieben und gesprochen hatten, als sie dafür warben, den schwarzen Kontinent von Fesseln der Sklaverei zu befreien. Ihr Mittel war das freie Wort, das nun jedoch, wenn es nach ARD und AStA geht, wieder gefesselt werden soll.