Frau Nowak nervt. Wenn sie in ihrem Unterricht die erste Rechenaufgabe lösen läßt, heißt das „WARM UP“ und nicht „Aufgabe“ und steht auch genau so, in Großbuchstaben, an der Tafel. Wenn sie rhythmisch in die Hände klatscht, muß die ganze Klasse zurückklatschen. Und wenn sie morgens den Klassenraum betritt, müssen die Schüler erst mal eine alberne Begrüßungszeremonie über sich ergehen lassen, die sie eigentlich „beknackt“ finden. Schließlich sind sie in der siebten Klasse und nicht im Kindergarten. Aber das traut sich, zumindest anfangs, keiner zu sagen, weil jeder von Kopf bis Fuß eingesponnen ist in den Kokon von Frau Nowaks antiautoritärer Betüdelungspädagogik: Niemand wird unter Druck gesetzt. Alles darf ausdiskutiert werden. Nur die manipulative Gendersprache („Mitschüler-innen“), die der frisch von der Uni in den Arbeitsalltag entlassenen Mathelehrerin in der akademischen Kaderschmiede eingeimpft wurde, die steht selbstverständlich nicht zur Diskussion. Die dürfen die Siebtkläßler in Jungpionier-Manier unhinterfragt von der Frau am Pult übernehmen. Wer diversitätskonform und „geschlechtergerecht“ ist, der wird es später nämlich ganz sicher leichter haben in dem Regenbogenimperium, dessen Codes Carla Nowak willig weitergibt.
Die Klasse hat die Nase voll von der Superpädagogin
Daß Carla Nowak (Leonie Benesch) irgendwann in die Bredouille kommt und zum Opfer ihrer Naivität wird, ist – so will es das nicht durchgehend glaubwürdige Drehbuch – einer gewohnheitsmäßigen Diebin geschuldet, die im Lehrerzimmer ihr Unwesen treibt. Per Videofalle, der eingeschalteten Kamera ihres Computers, entlarvt Carla die Täterin. Es handelt sich um die Schulsekretärin Frau Kuhn (Eva Löbau), die außerdem die Mutter eines ihrer Schüler ist, des hochbegabten Oskar (Leonard Stettnisch). Randgruppensensibel konfrontiert die Lehrerin die überführte Delinquentin mit dem Inhalt des Videobeweises: Ob sie ihr vielleicht etwas zu sagen habe? Doch Oskars Mutter geht voll auf Konfrontationskurs, spricht von übler Nachrede und verbotenen Überwachungskameras.
Eine Problemlösungssitzung mit der Direktorin löst keine Probleme, sondern bringt nur neue. Plötzlich hat die unerfahrene Pädagogin das halbe Lehrerzimmer gegen sich, weil sie das Beweismaterial nicht aushändigen will und sich auf Oskars Seite schlägt, als dieser wegen der durchgesickerten Vorwürfe gegen seine Mutter ausrastet. Auch Lügen sind der sonst voll auf moralische Integrität setzenden Lehrkraft plötzlich recht, um die eigene Position zu verteidigen. Durch ein Interview mit der Schülerzeitung gerät die Lage schließlich vollends außer Kontrolle. Und ihre Klasse hat auf einmal auch die Nase voll von der Superpädagogin mit den Kindergärtnerallüren.
„Frau Müller muß weg!“ forderten empörte Eltern in dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 2015, in dem eine andere Lehrerin unter Beschuß geriet. Ganz so schlimm kommt es für Carla Nowak in dem aufwühlend-authentischen Drama von İlker Çatak nicht. Anders als seinem Kollegen Sönke Wortmann, der sich brisanten Themen lieber mit komödiantischer Überzeichnung nähert, geht es dem Regisseur nämlich um eher realistisch ins Bild gesetzte Systemkritik – wie in dem französischen Vorbild „Die Klasse“ aus dem Jahr 2008. „Schule ist ein gutes Spielfeld, weil sie unsere Gesellschaft als Mikrokosmos, als Modell zeigt“, erklärt Çatak seine Motivation für den Film. „Ein zentraler Aspekt für mich ist die Wahrheitsfindung, die Wahrheitssuche oder wie man sich die Wahrheit zurechtlegt. Auch die Frage, woran man glaubt, wird gestellt.“
Das, woran die junge Gymnasiallehrerin glaubt – man könnte es wohl einen typisch linken Begriff von Gerechtigkeit nennen –, führt sie am Ende in die Sackgasse. Die sittlichen Normen, die im Lehrerzimmer kultiviert werden, sind nicht konsistent. Sie wirken sich, um im Jargon zu bleiben, nicht „nachhaltig“ aus. Auffällig ist, wie oft es Redebedarf gibt und wie oft dieses Klärungsbedürfnis einhergeht mit der Aufforderung an andere, mal bitte kurz den Raum zu verlassen. Immer gibt es Leute, die „gleicher“ sind als andere. Immer wieder schimmert das kommunistische Modell der demütigenden Selbstkritik-Sitzung durch.
Schonungslos seziert İlker Çatak auf diese Weise linksgrüne Lebenslügen, entlarvt die Hohlheit formelhafter Milieuphrasen wie „geschützter Raum“, „struktureller Rassismus“ oder „Wording“ und läßt reformpädagogische Knabenwolkenblütenträume aus dem universitären Elfenbeinturm an der harten Realität des Schulalltags zerschellen: Manchmal wollen Kinder einfach Führung, klare Ansagen und keine ergebnisoffenen Debatten wie zu Beginn des Films etwa darüber, ob nach der Rückgabe einer Klassenarbeit auch der Notenspiegel an die Tafel geschrieben werden soll oder nicht. Die Darstellung der als Antifa-Exerzierplatz inszenierten Schülerzeitungsredaktion gerät dem Regisseur gar zur bissigen Satire auf den verlogenen Regenbogen-Kapitalismus von Google, Coca-Cola und Co.: Nach außen hin werden Betroffenheit und Sozialfürsorge simuliert; doch was dann schließlich auf den Markt kommt, ist ein moralfreies Kommerzprodukt.
Statt einer Lösung für die vielen im „Lehrerzimmer“ aufgeworfenen Konflikte präsentiert die Koproduktion mit den Sendern Arte und ZDF, nominiert übrigens in sieben Kategorien für den Deutschen Filmpreis, am Ende ein pointiertes Schlußbild, das die heillose Misere des deutschen Bildungssystems auf den Punkt bringt.
Kinostart ist am 4. Mai 2023