Ein feiner Vorhang umgrenzt die Szene. Zwei Männer halten ihn beiseite; der eine blickt ergriffen auf das, was sich im Inneren der kargen Behausung abspielt, der andere fixiert den Betrachter: „Komm“, scheint er zu sagen, „sieh das Wunder!“ Und tatsächlich stürzen sie schon herbei, die Hirten, die im Bildhintergrund soeben unterrichtet wurden: „Der Heiland ist geboren!“ Dieser ist umgeben von Maria, Josef und einer Schar Engel, doch seine ungeschützte Blöße scheint bereits jetzt seinen Leidensweg vorwegzunehmen.
Im Spätwerk „Geburt Christi“, entstanden um 1480, bricht Hugo van der Goes mit der gemessenen, fast statuarisch wirkenden altniederländischen Malerei, zu deren Hauptvertretern Jan van Eyck und Rogier van der Weyden zählen. Das monumentale Gemälde ist voll von Gegensätzen: Die Dynamik der heranstürmenden Hirten prallt auf die Stille der Andächtigen, die farbigen Gewänder kontrastieren mit dem nackten Körper Christi, der farblos wie eine Grisaille wirkt. Zugleich wird die intime Szene öffentlich gemacht, indem die Propheten Daniel und Jesaja sie mit dem Öffnen des Vorhangs regelrecht zur Bühne werden lassen. Spricht aus dieser emotionsgeladenen Dynamik bereits der historisch verbriefte Wahnsinn des Künstlers?
Hugo van der Goes, um 1440 geboren, war ein prominenter und vielbeschäftigter Meister in Gent, wo er mehrfach zum Dekan der Malergilde Lukas gewählt wurde. Dennoch zog er sich um 1475 als frater conversus, als weltlicher Augustinerbruder, ins Roode Klooster bei Brüssel zurück. Doch weiterhin empfing er seine zahlreichen Auftraggeber, darunter Fürsten wie der spätere Kaiser Maximilian I., trank viel Wein und arbeitete wie besessen. Beides habe seiner Gesundheit geschadet, und wenige Jahre später erlebte van der Goes einen Zusammenbruch inklusive Selbstmordversuch: Er sei zu ewiger Verdammnis verurteilt! Fortan lebte der Maler demütig und zurückgezogen, bevor er bald darauf in geistiger Umnachtung starb.
Diese Informationen über das Leben des Hugo van der Goes stammen von Gaspar Ofhuys, der zeitgleich mit dem Maler ins Kloster eintrat und seine Erinnerungen drei Jahrzehnte später als Teil der Klosterchronik niederschrieb. Informationen, die sozusagen die künstlerische Auferstehung des Meisters beförderten, denn 300 Jahre später wird jene Klosterchronik wiederentdeckt. Es ist die Zeit der Romantik, deren Geniekult eben diese Verbindung von Kunst und Wahnsinn besonders schätzte. Und so war es Émile Wauters, Neffe des Entdeckers der Ofhuys-Chronik, der 1872 den Meister in seiner melancholischen Agonie auf eine monumentale Leinwand bannte und dessen Gemälde in halb Europa gezeigt und bestaunt wurde. Mit ihm wurde Hugo van der Goes zum niederländischen Prototypen des genialisch-wahnsinnigen Künstlers, auf das sich später auch Vincent van Gogh berief.
Der teuerste Kauf in der Geschichte der Gemäldegalerie
Auch der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, profunder Kenner der altniederländischen Malerei, schrieb 1953, van der Goes sei „vielleicht der erste Künstler, der einem Konzept gerecht wurde, das im Mittelalter unbekannt war, aber vom europäischen Geist seither hochgehalten wurde, dem Konzept eines Genies, das sowohl gesegnet als auch verflucht ist mit seiner Verschiedenheit von gewöhnlichen Menschen“.
Wauters Gemälde „Der Wahnsinn des Hugo van der Goes“ ist ein interessantes Detail zur Rezeptionsgeschichte des Meisters, das in der Ausstellung wie zahlreiche weitere Exponate von Vorgängern und Nachfolgern das Werk von Hugo van der Goes flankiert. Denn dessen heute gesichertes Œuvre besteht lediglich aus 14 Gemälden (davon zwölf in der Ausstellung) und zwei Zeichnungen, die allesamt beeindrucken: Der „Monforte-Altar“ (um 1470/75) beispielsweise ist das wahrscheinlich früheste erhaltene Werk. Er wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Wilhelm von Bode für eine Million Reichsmark erworben und ist damit bis heute der teuerste Kauf in der Geschichte der Gemäldegalerie. Der Altar zeigt die Anbetung der Heiligen Drei Könige und besticht durch seine monumentalen Figuren – die durch einen perspektivischen Trick wie lebensgroß wirken – sowie eine detailgenaue Plastizität und intensive Farbigkeit. Wie auch die „Geburt Christi“ gehört der Altar zum Berliner Sammlungsbestand; beide wurden in den vergangenen zwölf Jahren umfassend restauriert und sind dem Publikum nun erstmals wieder zugänglich.
Biblische Gestalten sollten menschlich greifbar werden
Ebenfalls frisch restauriert ist das beunruhigende Spätwerk „Marientod“ (um 1480), auf dem die sterbende Gottesmutter von trauernden Aposteln umringt, ihre Seele aber zugleich von ihrem in einer Mandorla erscheinenden Sohn erwartet wird. Farbe und Detailreichtum treten hier zurück zugunsten einer Darstellung vielfältiger Emotionen von Verzweiflung bis Hoffnung angesichts des nahenden Todes. Für die Berliner Gemäldesammlung, die immerhin die erste monographische Ausstellung zu van der Goes präsentiert, hat der „Marientod“ zum ersten Mal überhaupt Brügge und das Groeningemuseum verlassen.
Hugo van der Goes starb um 1482/83 in geistiger Umnachtung. Seine Gemälde benötigen den Anreiz des „genialischen Künstlertums“ im Grunde nicht: Sie entstanden zu einer Zeit, in der religiöse Darstellungen die biblischen Gestalten menschlich greifbar machen und ihre Betrachter zum Mitfühlen und Mitleiden anregen sollten. Genau dies gelingt Hugo van der Goes durch seine höchst durchdachten Bildkompositionen, besonders aber durch ihre dramatische Spannung und Dynamik sowie durch die lebendige Mimik und Körpersprache der dargestellten Figuren. Es ist eben diese Bandbreite von einer detailgenauen Wiedergabe von Materialität über den Anreiz zur Empathie bis hin zu möglicherweise selbst empfundenem Schmerz, die das Werk des Hugo van der Goes zu einer lohnenden Wiederentdeckung machen. Die Hoffnung auf Seligkeit allerdings hatte der altniederländische Meister offenbar verloren.
Die Ausstellung „Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz und Seligkeit“ ist bis zum 16. Juli 2023 in der Berliner Gemäldegalerie, Matthäikirchplatz, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr, zu sehen. Besuchertelefon: 030 / 266 42 42 42. Der Katalog aus dem Hirmer-Verlag mit 304 Seiten und 250 Abbildungen kostet im Museum 39 Euro.