Der Staatsbesuch in Deutschland Ende März war die erste offizielle Auslandsreise des neuen Königs von Großbritannien und Nordirland. Und nach verbreiteter Überzeugung der Deutschen hat Charles III. seine Sache gut gemacht. Ein Wohlwollen, das mit jenem Kryptomonarchismus zu erklären ist, der sich in Teilen der Bevölkerung hartnäckig hält, und selbst Prominente – Harald Schmidt, Ulrich Tukur – erfassen kann. Das hat aber auch mit der Vergeßlichkeit der Menschen zu tun, die ihre früheren Sentiments kaum erinnern: weder das Mitleid, das man mit dem Mann empfand, der nach seiner Erhebung zum Fürsten von Wales mehr als fünf Jahrzehnte warten mußte, um den Thron zu besteigen, noch die Erbitterung darüber, daß er seine erste Frau, die allseits bewunderte Prinzessin Diana, betrog und von der Mésalliance mit seiner Jugendliebe Camilla nicht lassen mochte.
Derartige Stimmungsschwankungen suchen auch die Briten heim, die Charles in Zukunft eher nominell als tatsächlich regieren wird. Den rührenden Bekundungen der Sympathie schon beim Bekanntwerden des Todes seiner Mutter Königin Elisabeth im vergangenen September und den guten demoskopischen Werten nach der Proklamation steht gegenüber, daß die Times 2010 eine Umfrage veröffentlicht hat, in der eine Mehrheit von 56 Prozent äußerte, sie würde es vorziehen, wenn Charles ältester Sohn William direkt auf Elisabeth folgte. Die News of the World brachten damals die Schlagzeile „Wir wollen König Willy!“
Kaum vorstellbar, daß dieser und ähnliche Vorgänge Charles ganz unberührt gelassen haben, und es dürfte ihm kaum ein Trost gewesen sein, daß er nicht der erste britische Thronfolger war, der sehr lange – bis zu seinem 73. Lebensjahr – auf die Thronbesteigung harren mußte. Zu erinnern ist an den späteren Eduard VII., der mit sechzig Jahren gekrönt wurde, oder an den späteren Georg IV., für den die Anwartschaft bis zum 68. Lebensjahr dauerte. Beide konnten sich unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen als den heutigen die Zeit mit Ausschweifungen vertreiben. Was für Charles weder möglich war, angesichts der Allgegenwart der Medien und der Sensationslust ihrer Verbraucher, noch seinem Charakter entsprach.
Jede Betrachtung seines Lebenswegs, die sich um ein Mindestmaß an Gerechtigkeit bemüht, wird zugeben, daß die Biographie des Königs – abgesehen von dem fatalen Ehebruch und verglichen mit den Extratouren einiger Standesgenossen – arm an Skandalen war. Folgt man dem, was der Öffentlichkeit bekannt wurde, gewinnt man eher den Eindruck eines, wenn nicht sensiblen, dann doch empfindlichen Mannes. Das mag einen guten Teil der Schwierigkeiten erklären, die er schon als Heranwachsender hatte, sich etwas von dem Stoizismus anzueignen und der Disziplin zu unterwerfen, die seine Mutter und sein Vater, Prinz Philip, für nötig hielten, um das Ansehen der Dynastie wie den Fortbestand der Monarchie zu sichern.
Charles hat dagegen zwar nicht offen rebelliert, sondern sich nach außen gefügt und alle möglichen militärischen, kirchlichen, diplomatischen und karitativen Aufgaben der „Firma“ Windsor erfüllt, aber in wachsendem Maß versucht, eigene Akzente zu setzen. Das zeigte sich an seinem Einsatz für Jugendliche aus prekären Verhältnissen durch den Prince’s Trust, dem Versuch, etwas gegen die Verwahrlosung der britischen Innenstädte zu unternehmen und der Anlage der Musterstadt Poundbury in Cornwall, die zeigen soll, wie heute menschengerechtes Wohnen – im scharfen Gegensatz zu den Prinzipien moderner Architektur – aussehen könnte. Daß es hier um mehr ging als das soziale Engagement, das man von einem Mitglied des Königshauses erwartet, erwies sich an dem Nachdruck, mit dem sich Charles für den Umweltschutz einzusetzen begann, als das noch keineswegs in Mode war. Dabei spielte sein Interesse an Gartenbau und Landschaftspflege eine Rolle, aber auch sein ganzheitliches Verständnis unserer Beziehung zur Natur. Über seine Neigung, mit Pflanzen, insbesondere Blumen, zu sprechen, hat es viel Spott gegeben, aber wie ernst es der „Grüne Prinz“ meinte, wurde deutlich, als er 2010 ein Buch erscheinen ließ, das seine Vorstellungswelt aus einem Guß zu präsentieren suchte.
Dabei signalisierte der Titel „Harmonie“, daß Charles keineswegs bei der Kritik der Industrie- und Konsumgesellschaft mit ihrem Wachstumsfetischismus stehenbleiben wollte. In den Vordergrund trat vielmehr die Annahme, daß ein Umsteuern möglich sei. So stellte Charles der breiten Darlegung aller negativen Folgen von Erderwärmung, Vernichtung des Regenwalds und Artensterben die Auffassung gegenüber, daß die Natur als „geschlossenes System“ wieder in die Lage versetzt werden könnte, sich selbst zu regulieren, sobald der Mensch aufhöre, immer tiefer in ihre Kreisläufe einzugreifen. Ein Optimismus, der nicht nachzuvollziehen ist, ohne Hinweis auf Charles’ Interesse an esoterischen Lehren, zu denen die uralte Idee der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos gehört. Daher rührt auch seine notorische Parteinahme für alle möglichen „alternativen“ Konzepte. Diese reichen vom Einsatz für Bio-Produkte und die Förderung der Homöopathie über die romantische Vorstellung von „Urvölkern“, die „noch immer im Einklang mit der Natur leben“ und von denen wir Europäer lernen sollten, bis zum Gedanken einer umfassenden „spirituellen Einheit im Herzen“ aller Menschen. Auch die irritierenden Äußerungen eines Mannes, der einmal weltliches Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche werden sollte, über die Gleichberechtigung, wenn nicht Gleichwertigkeit aller Religionen, verstehen sich aus diesem Kontext und dem Gedanken, daß die Akzeptanz jedes einzelnen, ganz gleich, welcher Herkunft, kulturellen Prägung oder Religion, den Ausgangspunkt für die „Wiederherstellung des Gleichgewichts“ bilden könnte.
Charles wollte „Harmonie“ ausdrücklich als Programm verstanden wissen, und man darf das Buch sicher als Ausdruck seines spezifischen Sendungsbewußtseins betrachten, in dem sich auf merkwürdige Weise Linkes und Konservatives verschränken. Wobei nie ganz klar wird, welches Element bei jemandem überwiegt, der erklärt, stolz zu sein, daß man ihn „Feind der Aufklärung“ heißt. Sicher muß man die Veröffentlichung von „Harmonie“ aber auch als Indiz dafür betrachten, daß nach dem Goldenen Thronjubiläum seiner Mutter 2003 und angesichts seines eigenen fortschreitenden Alters der Vorrat an Geduld zur Neige ging, über den Charles verfügte. Selbst wenn die in der fünften Staffel der Netflix-Serie „The Crown“ gezeigte Szene auf reiner Fiktion beruht, in der Charles den damaligen Premier John Major fragte, ob er meine, daß die Monarchie noch in sicheren Händen sei, und mit seiner Entourage eine Kampagne plante, die Elisabeth zum Rücktritt drängen sollte, hatten viele Beobachter Anfang des neuen Jahrtausends den Eindruck, daß der Thronfolger zwischen der Loyalität gegenüber seiner Mutter und dem verständlichen Wunsch, selbständig zu gestalten, hin und her gerissen war.
Nun wird „the King in Waiting“, der König im Wartestand, mit der Krönung am 6. Mai in der Abtei von Westminster ganz offiziell an die Spitze Großbritanniens treten. Fest steht schon, daß er darauf verzichtet, einen Thronnamen frei zu wählen, wie es sein Recht gewesen wäre. Das ist insofern bemerkenswert, als auf dem Namen Charles in der Geschichte der englischen Monarchie nie Segen lag. Karl I. wurde 1649 auf Befehl des Parlaments hingerichtet, nachdem er mit dem Versuch, ein absolutes Regime zu errichten, gescheitert und im Bürgerkrieg unterlegen war. Sein Sohn Karl II. mußte Jahrzehnte im Exil verbringen, erlebte zwar nach dem republikanischen Intermezzo die „Restauration“ von 1660, hinterließ aber den Eindruck eines ebenso liederlichen wie verantwortungslosen Herrschers, dessen Regime zur schrittweisen Entmachtung der Könige ihren Teil beigetragen hat.
Wahrscheinlich spielen solche Bezüge in der Gegenwart aber kaum noch eine Rolle, und nach menschlichem Ermessen dürfte die Dauer der neuen „karolinischen“ Ära überschaubar sein. Sie steht unter Vorzeichen, die von denen radikal verschieden sind, die bei Regierungsantritt Elisabeths II. die britische Welt geprägt haben. Das Empire ist längst verloren, selbst vom Commonwealth blieb nur ein Schatten, und dem Vereinigten Königreich droht der Zerfall, wenn in Nordirland und Schottland die separatistischen Kräfte erstarken. Der Brexit hat bei weitem nicht die Erwartungen erfüllt, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird gefährdet durch die Dysfunktion des Wohlfahrtsstaates, die Verslumung ganzer Stadtviertel und das ungebremste Eindringen illegaler Einwanderer. Ob dem allen mit Charles’ Bekenntnis zu Diversität und Antirassismus, seinem Einsatz für Integrationsmaßnahmen und verbesserte Bildung abzuhelfen ist, darf man füglich bezweifeln, zumal die Verfassung die Handlungs- wie Äußerungsmöglichkeiten des Königs noch viel stärker beschränkt als die des Thronfolgers.
Aber vielleicht hat Charles die Lektion mittlerweile begriffen, die ihm sein Vater auf den Weg gab, der meinte, es „wäre vernünftiger, nicht zu beliebt“ sein zu wollen. Er könnte akzeptieren, daß er ein König des Übergangs ist, seine Kraft dafür einsetzen, die eigene Familie wieder auf ein stabiles Fundament zu stellen und das Amtscharisma, das dem Träger der Krone blieb, nutzen, indem er einer Linie folgt, die er schon in seiner ersten Weihnachtsansprache skizziert hat, als er betonte, daß er sich in besonderer Weise den einfachen Menschen und ihren Nöten verpflichtet fühle.