Die unter einer rot-grünen Bundesregierung geöffnete „Gesetzeslücke“ bestand zwischen 2001 und 2011 – und sie hatte es in sich: „Cum-Ex-Geschäfte stehen für den größten Steuerraub der deutschen Geschichte. Der Schaden beläuft sich nach aktuellen Schätzungen auf mindestens zehn Milliarden Euro“, findet der von dem Grünen-Politiker Gerhard Schick und mehreren Ökonomen gegründete Berliner Verein „Bürgerbewegung Finanzwende“. Und in höchstrichterlicher Instanz wurde diese „vertrauliche Zusammenarbeit extrem gerissener Finanzmarktakteur*innen mit sehr wohlhabenden Menschen“ vom Bundesgerichtshof (2021) und Bundesfinanzhof (2022) für strafbar erklärt. Das Bundesverfassungsgericht urteilte erstmals 2017. Doch abgeschlossen ist das Drama längst nicht.
Vergangene Woche durchsuchten Ermittler die Frankfurter Geschäftsräume von Nomura. 37 Mitarbeiter der japanischen Investmentbank sollen an Cum-Ex-Geschäften beteiligt gewesen sein – zusammen mit der Frankfurter Dekabank, dem Wertpapierhaus der öffentlich-rechtlichen Sparkassen. Dabei trat Nomura als Leerverkäufer auf, was bedeutet, daß Nomura die Aktien an die Deka verkaufte, ohne sie zu besitzen. Ein Leerverkäufer muß sich die Aktien von einem Eigentümer leihen, um sie liefern zu können. Dieser Eigentümer erhält die Nettodividende (netto nach Kapitalertragsteuer) und bekommt eine Steuerbescheinigung ausgestellt. Doch auch der Käufer hat Anspruch auf eine Dividendenzahlung – schließlich kann ein Käufer nicht wissen, ob der Verkäufer die Aktie wirklich besitzt oder leerverkauft.
Keine Verpflichtung zur Abführung einer deutschen Steuer
Deshalb muß der Leerverkäufer eine Dividendenkompensationszahlung in Höhe der Nettodividende an den Käufer leisten. Das Problem ist, daß die Depotbank des Käufers ebenfalls eine Steuerbescheinigung ausstellt, weil die Nettozahlung wie eine normale Dividende aussieht. Das wäre kein Problem, wenn von der Kompensationszahlung eine Kapitalertragsteuer abgezogen worden wäre. Dann hätte es zwei Steuerzahlungen und zwei Bestätigungen gegeben. Befinden sich Akteure aber im Ausland, sah das Gesetz früher keine Verpflichtung zur Abführung einer deutschen Steuer auf die Kompensationszahlung vor. Deshalb war es jahrelang möglich, daß zwei Steuerbescheinigungen ausgestellt wurden, obwohl die Steuer nur einmal erhoben worden war.
Tun sich Leerverkäufer und Käufer zusammen, können sie die Rückerstattung der Kapitalertragsteuer untereinander aufteilen, was im Cum-Ex-Skandal üblich war. Außerdem soll Nomura noch Kapital zur Finanzierung der Geschäfte zur Verfügung gestellt haben. Denn es ist ein risikoloses Geschäft: Wenn Leerverkäufer und Käufer miteinander kooperieren, tragen sie insgesamt kein wirtschaftliches Risiko, wenn sich der Kurs der Aktie ändert.
Neben der Deka sollen auch öffentlich-rechtliche Landesbanken eine zentrale Rolle im Cum-Ex-Skandal gespielt haben. Allein die ehemalige WestLB soll 600 Millionen Euro durch Cum-Ex-Geschäfte erzielt haben, die dem Land NRW und dortigen Kommunen als Eigentümer zuflossen. Das war ein Vielfaches der Summe, um die es bei der privaten Hamburger Warburg-Bank ging. Doch der Warburg-Fall ist eben politischer: Welche Rolle spielten damals der damalige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz, sein Nachfolger Peter Tschentscher und die Landes-SPD? Da gibt es weiterhin viel Raum für Spekulationen.
Es geht um die verschleppte Rückforderung von etwa 47 Millionen Euro Steuererstattung, Kontakte zum Warburg-Eigner Christian Olearius und eine mögliche politische Einflußnahme. Die „Bürgerbewegung Finanzwende“ verlangt weiterhin Aufklärung und glaubt nicht an „Erinnerungslücken“. Der Cum-Ex-Steuerbetrug war aber letztlich oft eine Verschiebung von Steuermitteln aus der linken Tasche (Bund) in die rechte Tasche (Kommunen) – also ein Nullsummenspiel für den Staat insgesamt. Rechnet man dies ein, ist der tatsächliche Schaden für den Fiskus deutlich geringer als die in den Schlagzeilen genannten Milliardensummen.
Das dürfte auch der Grund sein, weshalb Ermittler bei den öffentlichen Banken deutlich nachlässiger vorgehen als bei privaten wie Warburg und Nomura. Aus buchhalterischer Sicht ist das durchaus logisch. Problematisch wird es natürlich, wenn Mitarbeiter individuell bestraft werden. Wer das Glück hatte, bei einer Landesbank zu arbeiten, gegen den wird derzeit nicht einmal ermittelt. Wer aber das gleiche bei einem privaten Institut tat, sitzt schon hinter Gittern, wie der 69jährige Wolfgang Schuck, Ex-Chef der insolventen Maple-Bank (vier Jahre). Und natürlich sitzen bei den Landesbanken Politiker in den Aufsichtsräten, unter deren mangelnder Aufsicht sich der Skandal abspielte.
Doch weshalb konnten Cum-Ex-Geschäfte überhaupt stattfinden? Alles deutet auf die Finanzverwaltung hin. Denn bedenkt man, daß die Schweiz 35 Prozent Quellensteuer erhebt, deutlich mehr als Deutschland (26,375 Prozent inklusive Solizuschlag), würde sich ein Steuerbetrug gegen die Schweiz wesentlich besser rentieren. Es war also eine deutsche Besonderheit, die den Betrug überhaupt erst ermöglichte. Dänemark hatte ähnliche Schwachstellen und erlitt Cum-Ex-Betrug, allerdings in geringerem Umfang.
Rückerstattungsverfahren haben sich als Milliardengrab erwiesen
Denn obwohl die Kapitalgesellschaft bei Auszahlung der Dividenden die Kapitalertragsteuer abführte, waren es die Depotbanken, die zur Ausstellung der Steuerbescheinigungen an Halter der Aktien verpflichtet waren, ohne wissen zu können, ob für die jeweiligen Aktien Steuern abgeführt worden waren. Durch diese verwaltungstechnische Trennung konnten überhaupt erst Bescheinigungen für nicht gezahlte Steuern ausgestellt werden. Erst seit die Bestätigungen von den Zahlern ausgestellt werden, ist die Mehrfachausstellung unmöglich. Diese Vorgaben waren von den Finanzbehörden erlassen und jahrelang nicht korrigiert worden, obwohl sich Hinweise auf Betrug häuften.
Rückerstattungsverfahren sind anfällig für Betrügereien, besonders wenn sie grenzüberschreitend sind. Das hat man schon vor Jahren bei der Mehrwertsteuer festgestellt und aktuell bei der Kapitalertragsteuer. Auch in der Vergangenheit waren die Steuern auf Dividenden Schauplatz internationaler Finanzkrimis. Seit es den internationalen Austausch von Steuerdaten gibt, besteht eigentlich kein Grund mehr, Kapitalertragsteuer direkt an der Quelle einzuziehen und sie dann Steuerausländern mit teurer Bürokratie zurückzuerstatten. Sinnvoller wäre eine Regelung wie in Großbritannien, das Dividenden nicht an der Quelle besteuert, sondern erst im Rahmen der Einkommensteuererklärung. Die USA gehen einen ähnlichen Weg und erlauben Ausländern, auf Antrag die Quellensteuer auf den Betrag des Doppelbesteuerungsabkommens zu reduzieren, so daß ein Rückerstattungsvorgang vermieden werden kann.
Die ganzen Rückerstattungsverfahren haben sich als Milliardengrab erwiesen. Statt Dividenden an der Quelle zu besteuern und dann rückzuerstatten, sollten die Finanzämter besser die Daten aus dem internationalen Finanzdatenaustausch sorgfältig auswerten und so Steuerflüchtige ermitteln.
Aktion der „Bürgerbewegung Finanzwende“: www.finanzwende.de