© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/23 / 05. Mai 2023

Grüße aus … Bern
Mitleid mit den Deutschen
Frank Liebermann

Wie schön wäre es, wenn es für die Berner keine Inflation gäbe. Aber es hat auch die sympathischen Hauptstädter erwischt. Im Moment liegt die Teuerung bei rund drei Prozent. Der Ukrainekonflikt hinterläßt seine Spuren. Diese sind zwar nicht so groß wie im Rest von Europa, allerdings merklich spürbar. Dem Schweizer Franken sei Dank, der trotz dem Debakel der Credit Suisse eine starke Währung ist, bleibt uns Schlimmeres erspart. Nur das Tanken und Heizen schmerzen ein wenig, was in den Medien und an den Stammtischen zu lautem Klagen führt.

Der Blick nach drüben, gemeint ist Deutschland, tröstet nicht. Ganz im Gegenteil. Wir Schweizer haben Mitleid mit den Nachbarn, und wenn es nur aus Eigennutz ist. Die galoppierende Inflation im Norden wirkt sich negativ auf viele Menschen aus. Schweizer sind doppelt betroffen. Reto ist ein Bekannter von mir. Er ist Witwer, und trotz seinen 70 Jahren ist er aktiv und liebt das Autofahren. Seine Rente fällt nicht allzu üppig aus. Dies liegt daran, daß er halt nicht immer der größte Schaffer war und sich größere Auszeiten von der Arbeit gönnte. 

Freude entsteht nur, wenn das Gespräch auf die obligatorische Stärkung nach dem Einkauf kommt. 

Um sein knappes Budget zu schonen, fährt er alle zwei Wochen mit seinem alten Kombi die hundert Kilometer nach Deutschland. Das kann er gut machen, da er über ausreichend Tagesfreizeit verfügt. Beliebte Ziele sind Freiburg, Lörrach oder Waldshut. Interessant sind nicht die touristischen Sehenswürdigkeiten. Im Fokus stehen Einkaufszentren und große Supermärkte mit möglichst viel Parkplatz drum herum. 

Denn damit sich der Ausflug lohnt, packt Reto seine noch nicht schulpflichtigen Enkel in sein Gefährt. Die Zollfreigrenze für die Einfuhr in die Schweiz beträgt dreihundert Franken pro Person. Jede weitere Nase im Auto erhöht den Betrag, was den Schnäppchenjäger freut. Als Gegenleistung für die Leihgabe erwartet seine Schwiegertochter, daß er sorgfältig ihre Einkaufsliste abarbeitet. 

Seit der Inflationsteufel zugeschlagen hat, sind aber zahlreiche Produkte bei Aldi, Rewe und Lidl nicht billiger als bei den Schweizer Einzelhändlern. Reto bekommt nicht mehr so viele Waren wie früher. Selbst er ächzt unter der Preissteigerung. 

Freude entsteht nur, wenn das Gespräch auf die obligatorische Stärkung nach dem Einkauf kommt. Seine größte Vorliebe sind deutsche Schnitzel. Dabei geht es nicht um Qualität, sondern um Masse. Dasselbe gilt für die Eisbecher, die besonders von den Enkeln geschätzt werden. In der Gastronomie ist der Preisunterschied zur Schweiz so hoch, daß dies kaum spürbar ist. 

Die reduzierte Warenmenge, die Reto für sein Geld erhält, nervt ihn. Er überlegt sich, bald ein drittes Kind mitzunehmen. Dann bekommt er sein Auto mit dem Einkauf wenigstens voll, auch wenn es teurer wird.