Es ist eine Allianz, wie man sie im politischen Tagesgeschäft selten sieht. Euroskeptiker zusammen mit EU Freunden, säkulare Nationalisten neben Religiösen, Sozialdemokraten neben Wirtschaftsliberalen. Die Rede ist von dem größten oppositionellen Bündnis, das in der Türkei je zu einer Präsidentenwahl angetreten ist. Das „Bündnis der Nation“ (Millet İttifakı), wie sich die Oppositionsorganisation selbst nennt, ist ein politischer Gemischtwarenladen erster Güte. Zusammengehalten wird er vor allem durch einen gemeinsamen Nenner: die Ablehnung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Sechs Parteien setzen ihre Hoffnung in das Zweckbündnis, doch es ist nicht nur ein Bündnis völlig unterschiedlicher Ideologien, sondern es ist auch eines, das von einem deutlichen Machtgefälle gezeichnet ist. Denn das Bündnis der Nation ist vor allem ein Zusammenschluß von zwei größeren mit vier Kleinparteien.
Tonangebend ist die CHP. Sie ist die große, etablierte Oppositionspartei im türkischen System. Die mitunter als sozialdemokratisch bezeichnete CHP ist vor allem die offizielle Erbin des Kemalismus. Sie kann ihre Traditionslinie seit den Anfängen der modernen Türkei ungebrochen bis in die Gegenwart ziehen und sitzt mit 134 Abgeordneten im Parlament. Auch der Präsidentschaftskandidat, auf den sich das ungleiche Bündnis geeinigt hat, stammt aus ihren Reihen. Kemal Kılıçdaroğlu verkörpert als Parteichef und Herausforderer Erdoğans perfekt das Image seiner Partei. Der Volkswirt und ehemalige Beamte gilt selbst unter Anhängern als wenig charismatisch und betont bürgerlich.
Kurz vor den Wahlen drohte das Oppositionsbündnis zu platzen
Dem aus einer alevitischen Familie stammenden jungen Mann wurde der Erfolg in einem dem alevitischen Islam eher feindlich gegenüberstehenden System nicht in die Wiege gelegt. Doch Kılıçdaroğlu arbeitete sich in dem Beamtenapparat der türkischen Bürokratie nach oben, Weggefährten beschreiben ihn als „ruhigen und sachlichen Arbeiter“, als jemand der vermitteln und schlichten kann – nicht unbedingt begeistern. Doch vielleicht ist es gerade diese unaufgeregte Sachlichkeit, die viele Türken anzieht. Denn der Mann, den seine Anhänger auch Mahatma Kemal nennen, sagt von sich selbst, er habe „keine Ambitionen“. Er will Erdoğan nicht beerben, sondern statt dessen den Parlamentarismus stärken und das Präsidentenamt schwächen. Wenn das geschafft sei, werde er das Büro verlassen und „in einer Ecke mit meinen Enkelkindern spielen“.
Kılıçdaroğlu ist ein Anti-Erdoğan, der vor allem dann zu unvermuteten Höchstleistungen aufläuft, wenn er als Kämpfer gegen das von vielen Türken zunehmend als autokratisch empfundene System des aktuellen Präsidenten antritt. Dann folgen ihm sogar Millionen, wie etwa 2017, als er zu einem Protestmarsch gegen die Verhaftung eines Parteifreundes aufrief. Auch deshalb hat sich der 74jährige bei seiner ersten Herausforderung bewährt: Es ist Kemal Kılıçdaroğlu gelungen, sein Oppositionsbündnis zusammenzuhalten.
Denn die Existenz der Millet İttifakı stand lange Zeit unter einem großen Fragezeichen. Verantwortlich dafür ist Meral Akşener, die Chefin der Iyi Parti, der „Guten Partei“. Ähnlich wie Kılıçdaroğlu ist auch Akşener eine alte Bekannte der türkischen Politik. Sie und weite Teile der Funktionäre ihrer Partei kommen aus den Reihen der nationalistischen MHP. Diese dominierte lange Zeit das politische Spektrum auf der Rechten. Als rechte Bewegung, die von vielen Politologen dem Faschismus zugerechnet wird, wandelte sich die MHP in der Ära Erdoğan zu einer eng mit dem System des Amtsinhabers kooperierenden Kraft.
Aus der internen Kritik an dieser für die MHP wenig zukunftsträchtigen Beziehung, entstand die etwas moderater auftretende Iyi Parti mit der gewieften Akşener an der Spitze. Im Gegensatz zur MHP positioniert sie ihre junge Partei als deutlich prowestlicher. Um alte Parteigänger aus der nationalistischen Frühzeit der Bewegung nicht zu verschrecken, nutzt auch Akşener mitunter weiterhin die Formensprache der türkischen extremen Rechten. Sie grüßt mit dem Handzeichen der Grauen Wölfe und ihre Anhänger nennen sie „Asena“, nach einer Wölfin aus der türkischen Mythologie.
Die resolute Frau bereitete den Verhandlern der anderen Parteien lange Kopfzerbrechen, drohte mehrfach ihren Rückzug aus der Allianz an, ließ der Ankündigung sogar einmal Taten folgen und kehrte erst zurück, nachdem ihren Wunschkandidaten für die Präsidentschaftskandidatur zwei Plätze als Stellvertreter von Kılıçdaroğlu zugebilligt waren. Es dürfte auch die zur Schau gestellte Kompromißbereitschaft des CHP-Chefs gewesen sein, die ihr in der Öffentlichkeit keine andere Möglichkeit ließ als die Rückkehr an den Verhandlungstisch.
Doch ihre Freude an der Konfrontation könnte sich letztlich als Glücksfall für die Allianz erweisen. Denn die beiden von Akşener geforderten Kandidaten, Mansur Yavaş und Ekrem İmamoğlu, gehören, anders als der stets etwas langweilig wirkende Kılıçdaroğlu, zu den echten Hoffnungsträgern der Türkei. Beide gewannen mit Unterstützung von CHP und Iyi Kommunalwahlen in den wichtigsten Städten der Türkei – İmamoğlu in Istanbul, Yavaş in Ankara – ,und beide setzten sich in einem dynamisch und modern geführten Wahlkampf gegen zwei dezidierte Wunschkandidaten des aktuellen Präsidenten durch. İmamoğlu und Yavaş werden von vielen Türken als deutlich gefährlicher für Erdoğan gesehen als der blasse Kılıçdaroğlu.
Neben Iyi und CHP beteiligen sich noch vier weitere Parteien an der Allianz, die im politischen Spektrum nahezu alle übrigen Felder abdecken, die die beiden großen Partner vernachlässigen oder gar aufgrund der eigenen ideologischen Ausrichtung nicht abdecken können. Etwa die „Partei für Demokratie und Fortschritt“ (DEVA) des ehemaligen AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan, die sich vor allem für Säkularismus und eine wirtschaftsliberale Ordnung einsetzt. Oder die „Zukunftspartei“ (GP), des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Sie will sich vor allen Dingen um die Freiheit der Justiz und der Presse kümmern und ethnische Minderheiten im Land stärker berücksichtigen.
Zünglein an der Waage könnte die kurdische HDP sein
Am anderen Ende des Spektrums kümmert sich hingegen die „Partei der Glückseligkeit“ (Saadet Partisi) um all jene, die sich nicht weit genug vom Westen und dem Liberalismus entfernen können. Die islamistische Partei ist Teil der Millî-Görüş-Bewegung und gilt als Angebot an jene, die der regierenden AKP vorwerfen, sich zu weit von der ursprünglich streng religiös-konservativen Linie entfernt zu haben. Mit der „Demokratischen Partei“ (DP) folgt schließlich die letzte der vier Kleinparteien. Einst als eine Art türkische FDP durchaus erfolgreich im Zentrum des politischen Spektrums der Türkei angesiedelt ist die DP heute nur noch ein Schatten ihrer selbst und bewegte sich in Umfragen im einstelligen Bereich. Das hat sie immerhin mit den vor ihr aufgezählten Parteien gemeinsam. DEVA, GP, Saadet und DP sind die Juniorpartner in der Allianz.
Neben Iyi und CHP ist allerdings noch eine dritte Kraft von großer Relevanz für die Chancen auf einen Wahlsieg – die kurdisch geprägte HDP. Sie ist nicht Teil der Allianz, um nationalistische Wähler nicht zu verschrecken, kündigte aber an, Kılıçdaroğlu unterstützen zu wollen. Die vor allem in den Kurdengebieten starke HDP verfügt über immerhin 56 Abgeordnete im türkischen Parlament und ist damit deutlich stärker als die Iyi-Partei mit ihren 36 Abgeordneten. Doch eine allzu offene Unterstützung der Opposition durch die HDP könnte sich als Bumerang erweisen, denn viele Türken verbinden mit der HDP den Terrorismus der PKK.