Sollten sich die Umfragen bewahrheiten, könnte es für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach 20 Jahren an der Macht eng werden. Wenn am 14. Mai rund 64 Millionen Türken bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen aufgerufen sind, mit ihrer Stimme über die politische Zukunft der Türkei zu entscheiden, sieht sich Erdoğan mit dem Kandidaten der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, erstmals einem ernstzunehmenden Gegenkandidaten gegenüber, der ihm die Macht streitig machen könnte. Je knapper die Wahl ausgeht, desto wichtiger werden die Stimmen der rund 1,5 Millionen türkischen Wähler in Deutschland.
Die Türken in der Bundesrepublik galten in der Vergangenheit mehrheitlich als treue Parteigänger Erdoğans und seiner Partei, der AKP. Ein Umstand, der ihnen in Kreisen der Opposition in ihrem Heimatland regelmäßig Kritik einbrachte, da die Erdoğan-Wähler in Deutschland anders als ihre Landsleute in der Türkei nicht direkt die Folgen ihrer Wahlentscheidung tragen mußten. „Bei den letzten Wahlen 2018 sahen wir, daß über 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland die AKP gewählt haben“, sagte Professor Kemal Bozay vom Zentrum für Radikalisierungsforschung in Essen dem ZDF. „In einigen Städten im Ruhrgebiet waren es 70 bis 75 Prozent. Diese Stimmen sind für Präsident Erdoğan also sehr wichtig, und deshalb möchte die AKP natürlich diese Kraft behalten.“
Kein Wunder also, daß sowohl die AKP als auch die Oppositionsparteien bei dieser Wahl ein besonderes Augenmerk auf die insgesamt rund drei Millionen wahlberechtigten Auslandstürken richten. Denn auch die Wahlkampfmanager in Ankara wissen: Am Ende zählt jede Stimme. Der Fokus dürfte dabei auf der Mobilisierung potentieller Wähler liegen. Denn bei der Präsidentschaftswahl 2018 gingen in Deutschland nicht einmal die Hälfte der Türken zur Wahl, während die Wahlbeteiligung in der Türkei bei 80 Prozent lag.
Ankara wirft Berlin „Nazi-Praktiken“ vor
Bereits seit Donnerstag vergangener Woche sind die bundesweit 17 genehmigten Wahllokale in der türkischen Botschaft sowie in den General- und Honorarkonsulaten in Deutschland geöffnet. Bis zum 9. Mai können türkische Staatsbürger hier ihre Stimme abgeben. Ursprünglich wollte die Türkei sogar zehn weitere Wahllokale außerhalb ihrer diplomatischen Vertretungen einrichten, scheiterte kurzfristig allerdings am Veto der Bundesregierung. Zur Begründung hieß es aus dem Innenministerium, daß grundsätzlich die Einrichtung von Wahllokalen außerhalb von diplomatischen und konsularischen Vertretungen „gemäß einer Rundnote des Auswärtigen Amts“ nicht vorgesehen sei.
Die Entscheidung stieß sowohl bei Vertretern der Regierungspartei AKP als auch bei der Opposition auf Kritik und Unverständnis. Ein weiteres Zeichen dafür, welchen Stellenwert beide Seiten den türkischen Wählern in Deutschland zurechnen. Doch auch so läuft der türkische Wahlkampf in Deutschland bereits seit Wochen auf Hochtouren – allerdings von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Anders allerdings in Nürnberg, wo er seinen Weg ins Stadtbild gefunden und die AKP zur Verwunderung mancher Passanten türkischsprachige Wahlplakate aufgehängt hat. „Aufgrund des Wahlkampfes wurden 25 Plakate außerhalb der Altstadt im Rahmen einer Sondernutzung vom 22. April bis zum 5. Mai genehmigt“, teilte die Stadt dazu mit und verteidigte ihr Vorgehen: „Wir sind sowohl im deutschen als auch im ausländischen Wahlkampf neutral. Jeder hat im Rahmen der Gesetze das Recht, Plakate aufzuhängen.“ Bei Kritikern wie dem früheren Bundestagsabgeordneten Volker Beck (Grüne) stößt das Vorgehen der Stadtverwaltung dennoch auf wenig Verständnis: „Die deutsche Politik muß endlich aufwachen: Erdoğan und die AKP sind Antidemokraten. Wer sie unterstützt, vergiftet auch das politische Klima in Deutschland“, sagte er der Bild-Zeitung.
Ein weiterer Streitpunkt sind Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland, die schon in der Vergangenheit immer wieder für diplomatische Verwicklungen gesorgt haben. Im Vorfeld des Verfassungsreferendums in der Türkei 2017 eskalierte der Streit. Aufgrund von Sicherheitsbedenken verboten deutsche Behörden mehrere solcher Wahlkampfveranstaltungen und handelten sich daraufhin von Erdoğan den Vorwurf von „Nazi-Praktiken“ ein. Die Bundesregierung verschärfte daraufhin die Regeln für solche Auftritte. Seitdem gilt: Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker sind in Deutschland drei Monate vor Wahlen oder Abstimmungen in ihren Ländern grundsätzlich verboten. Wenn ausländische Regierungsmitglieder außerhalb von Wahlkampfzeiten hierzulande mit einem politischen Auftritt für sich werben wollen, muß dieser zehn Tage vorher beantragt und von der Bundesregierung genehmigt werden.
Doch offenbar sind diese Regelungen im aktuellen Wahlkampf nicht von allen türkischen Politikern befolgt worden. Im Januar sorgte ein über Twitter verbreitetes Video eines AKP-Abgeordneten für Aufsehen, in dem dieser die Anhänger seiner Partei in Deutschland auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei einschwor. Dabei soll der AKP-Abgeordnete die „Vernichtung“ von Anhängern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der sogenannten Gülen-Organisation gefordert haben, berichtet die Welt. Man werde ihnen, wie in der Türkei, auch in Deutschland kein Lebensrecht geben, sagte er dem Video zufolge.
Offenbar als Reaktion auf den Auftritt war der türkische Botschafter in Deutschland ins Auswärtige Amt zitiert worden. „Aufritte eines türkischen Abgeordneten in Neuss dürfen sich nicht wiederholen. Hetze und Haßrede haben in Deutschland nichts verloren“, teilte das Auswärtige Amt zudem mit. Man habe „unmißverständlich“ daran erinnert, daß ausländische Wahlkampfveranstaltungen vorher genehmigt werden müßten. Wenn sich türkische Vertreter nicht an die Spielregeln hielten, müßten Konsequenzen geprüft werden.
Dennoch hat es sich bei dem Vorfall offenbar nicht um einen Einzelfall gehandelt. Berichten zufolge sind im laufenden Wahlkampf mittlerweile mehr als hundert türkische Amts- und Mandatsträger in Deutschland aufgetreten. Außerdem berichten Türken in Deutschland in sozialen Medien, daß AKP-Anhänger hierzulande sogar an Haustüren klingelten, um für ihre Partei und den Staatspräsidenten zu werben, meldet das Handelsblatt. Dabei hatte ein Sprecher des türkischen Präsidenten im Januar versichert, die Türkei werde die deutschen Regelungen für Wahlkampfauftritte respektieren. Daß die Realität anders aussieht, kann als weiterer Beleg dafür gesehen werden, daß den türkischen Wählern in Deutschland eine ganz besondere Rolle zukommt.
Türken in Deutschland
Etwa 1,49 Millionen aller in Deutschland lebenden Ausländer besitzen die türkische Staatsangehörigkeit – das entspricht etwa einem Achtel aller Ausländer (12,8 Prozent) hierzulande. Unter ihnen sind die Türken damit die größte Gruppe. Außerdem stellen sie etwa die Hälfte der 2,9 Millionen Personen, die den Daten des Mikrozensus von 2015 zufolge einen türkischen Migrationshintergrund aufweisen. Unter den in Deutschland lebenden Türken erfreute sich bei den jüngsten Wahlen und Abstimmungen die AKP von Präsident Erdoğan überproportional großer Beliebtheit. Als problematisch bewerten Kritiker dabei die Rolle der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (Diyanet Isleri Türk Islam Birligi, abgekürzt Ditib), des größten Trägervereins von Moscheen in Deutschland. Da die Ditib faktisch dem staatlichen Präsidium für Religiöse Angelegenheiten der Türkei (Diyanet) untersteht, sei häufig die Religionsausübung nicht von der Verfolgung politischer Ziele Ankaras in Deutschland zu trennen. (vo)