© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/23 / 28. April 2023

„Überaus frisch geblieben“
Veit Valentins Epos zur deutschen Revolution von 1848/49: Zugleich Vorbild und Gegenbild der aktuellen Mode transnationaler Geschichtsschreibung
Dirk Glaser

Nur politisch naive Gemüter hofften nach dem Mauerfall noch auf die Rückkehr zur Normalität eines deutschen Nationalstaats. Wohin die Reise wirklich ging, zeigte 1993 der Vertrag von Maastricht: Für die Wiedervereinigung zahlten die Deutschen mit der Aufgabe des ihnen verbliebenen Herzstücks nationaler Souveränität, ihrer Währungshoheit. 

Im ideologischen Überbau vollzogen Historiker, seit Äonen im Lippendienst geübte rückwärts gewandte Propheten, den Abschied vom kaum fragmentarisch wiedergewonnenen Nationalstaat postwendend nach. Geschichte und Gesellschaft, das Zentralorgan der „Bielefelder Schule“ Hans-Ulrich Wehlers (1931–2019), begann 2001 vielstimmig für die neue „Meistererzählung“ der Berliner Republik zu trommeln, plädierte dafür, die historiographische „Nationalfixiertheit“ zu überwinden und deutsche Geschichte nicht länger nur „im Tunnelblick zwischen Rhein und Memel“ zu betrachten, sondern „überkommene Essentialismen und Identitäten mittels transnationaler Geschichtsschreibung aufzubrechen“.

Selbst dem braven Sozialdemokraten Wehler gingen derart überschäumender kosmopolitischer Bekenntniseifer und verschwitztes Dekonstruieren spürbar auf die Nerven. „Steht alles schon bei Max Weber“, konterte er den neuerungssüchtigen Nachwuchs. Tatsächlich brauchte eine vergleichende „transnationale“ Geschichtsschreibung nicht erst von einer in der geschichtsfern-windstillen westdeutschen Provinz sozialisierten Historikergeneration erfunden zu werden, der Hermann Heimpels Binsenweisheit „Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen“ offensichtlich fremd war. Denn während der ersten Globalisierung, in der Hochblüte des „weltoffenen“ Imperialismus und Kolonialismus vor 1914, war es für Historiker wie für viele andere Vertreter geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen schlicht selbstverständlich, über den nationalen Tellerrand hinwegschauen zu können. Nicht von ungefähr schloß Leopold von Ranke (1795–1886) noch in hohem Alter seine vielbändige „Weltgeschichte“ ab, und in seinem Schlepptau etablierte sich an der Berliner Universität mit Hans Delbrück, Kurt Breysig, Otto Hintze, Josef Kohler, Ernst Troeltsch, Hermann Schumacher und Alfred Vierkandt (JF 17/23) ein „übernational“ orientierter, interdisziplinärer Kreis wilhelminischer Gelehrter. 

Vorläufer der transnationalen Geschichtsschreibung gesucht

Für den Historiker Olaf Blaschke (Münster) und seinen Co-Autor Simon Potthast (Paderborn) war es angesichts dieser älteren global- und universalhistorischen Forschungstradition also nicht weiter schwer, auch für die deutsche Revolution von 1848/49 einen „Vorläufer der transnationalen Geschichtsschreibung“ ausfindig zu machen (Historische Zeitschrift, 1/2023). Es handelt sich um Veit Valentin (1885–1947), dessen 1930/31 veröffentlichtes, monumentales, 1.500 Seiten dickes Revolutionspanorama, wie sein kritischer Bewunderer Wehler 1979 rühmte, wegen seiner Quellennähe und der Reichhaltigkeit des sorgsam ausgewerteten riesigen Materials „überaus frisch geblieben ist“. Obwohl es eine moderne Gesamtanalyse nicht ersetzen könne. Die im Jubiläumsjahr 2023 zwar immer noch fehlt, was Blaschke und Potthast aber nicht hindert, Wehlers wohlwollenden Befund über dieses weiterhin „unverzichtbare Standardwerk“ uneingeschränkt zu bestätigen.

Valentin, aufgewachsen in einem Elternhaus, das geprägt war vom liberal-aufklärerischen Geist des Frankfurter Bildungsbürgertums, als Wunderkind mit 25 Jahren habilitiert, ursprünglich orthodoxer Bismarckianer, 1917 aber wegen seiner Kritik an alldeutschen akademischen Propagandisten des „Siegfriedens“ um sein Freiburger Lehramt gebracht und selbst nach der Novemberrevolution 1918 auf einen subalternen Posten im Reichsarchiv abgeschoben, schrieb dieses Werk, um als ein inzwischen zum Pazifismus bekehrter Linksliberaler in zwölfter Stunde der vor ihrer Agonie stehenden Weimarer Republik durch Anknüpfung an die 1848er Tradition eine historische Legitimation zu verschaffen. Er tat das, indem er nachzuweisen versuchte, daß Demokratie, Parteienpluralismus, Parlamentarismus, Rechtsstaat keine, wie die fundamentalistische rechte Opposition seit 1918 stur behauptete, „undeutschen“ westeuropäischen Importe waren, sondern urtümliche nationale Eigengewächse. Doch die Resonanz in der Zunft blieb in der kurzen Zeit bis zur NS-Machtergreifung aus. Der Linksliberale Valentin, als publizistischer Verteidiger der Republik aus Weltbühne und Friedens-Warte bekannt, verlor 1933 seine Beamtenstellung und ging ins Exil.

Blaschke und Potthast machen in Valentins 1848er-Epos drei für die heutige transnationale Forschung klassische Untersuchungsgegenstände aus: Akteure, Ideen, Kulturen und Räume. Beide Akteure, Revolutionäre und Reaktionäre, ordnet Valentin mühelos im gesamteuropäischen Kontext ein. Wobei der konterrevolutionäre „Fürstenkonzern“ als „Internationale der Reaktion“ über Grenzen hinweg bei ihm sogar noch enger vernetzt erscheint als bunte Haufen wie Georg Herweghs „Deutsche Legion“, in der als „internationale Brigade“ auch Schweizer, Polen, Ungarn und Italiener für die „Völkerfreiheit“ kämpften. Als babylonischen Knotenpunkt transnationaler Revolutionsbegegnungen präsentiert Valentin Wien, den er als Metropole des habsburgischen Vielvölkerstaates eine größere Bedeutung für die Revolutionsgeschichte als dem preußischen Berlin zuweist. 

Aus den USA, England und Frankreich stammen die Leitideen der europäischen Revolutionen: Freiheit und Demokratie. Bei Valentin sind sie „internationales Bildungsgut“, entfalten sich kulturell jedoch nur in kreativer nationaler Aneignung. Dieses fiel in deutschen Landen um so leichter, als die demokratisch-genossenschaftliche Gesellschaftsform germanisches Erbe gewesen sei. „Urdeutsches“ formte daher die gesamte Revolutionswirklichkeit, wie gerade transnationale Vergleiche zeigen. Dieses Festhalten am nationalen Bezugsrahmen sowie sein Beharren auf der substantiellen Realität von „Völkern“, das Valentin für das „historiographische Amt der Gesinnungsbildung in Gegenwart und Zukunft“ für ganz unverzichtbar galt, unterscheidet, wie Blaschke und Potthast mit Bedauern feststellen, diesen Vorläufer wahrer transnationaler Historiographie fundamental von ihrer gegenwärtig dominierenden, mit post- und antinationaler „Any-where-Ideologie“ abgefüllten Version.


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