Nun kennen wir die ganze Wahrheit um Machtmißbrauch und sexuelle Übergriffe, Liebe und Intrige: Benjamin von Stuckrad-Barres Buch „Noch wach?“ erzählt vom Kampf des Guten, hier des Ich-Erzählers, gegen das Böse in Gestalt des „Chefredakteurs“. Dieser wird als „eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi“, als „Tucker Carlson für geistig noch Ärmere“ beschrieben, doch steht er in der Gunst des „Senderchefs“. Diesen Chef eines namenlosen Medienunternehmens bezeichnet der Erzähler als „Freund“ – trotz dessen lächerlichen Charakters und kruder Weltanschauungen. Als Redaktionsmitarbeiterinnen Vorwürfe wegen sexuellen Machtmißbrauchs gegen den „Chefredakteur“ erheben, ringt der Erzähler um die moralische Integrität des „Freundes“ – und unterliegt. Ende einer Freundschaft.
Möglicherweise auch das Ende der Loyalität? Zumindest in der Medienwelt wurde „Noch wach?“ mit Spannung als Enthüllungsroman über den Springer-Verlag erwartet. Zwar sei das „Sittengemälde“ ein fiktionaler Text und lediglich „inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen“, so der Autor, doch die Romanfiguren sind mühelos als die hochrangigen (Ex-)Mitarbeiter des Springer-Verlags Mathias Döpfner, Kai Diekmann und Julian Reichelt zu erkennen. Selbst der Name der Bild-Zeitung fällt des öfteren.
Es soll hier nicht über die literarische Qualität des Romans befunden werden; auffallend ist, daß man dessen Inhalt sowie Schlußfolgerungen aus den beschriebenen Ereignissen bereits aus zahlreichen Presseberichten über den Springer-Verlag kennt. Gesteigerte Aufmerksamkeit erhielt das Buch durch die kürzlich von der Zeit veröffentlichten privaten Textnachrichten Mathias Döpfners, des Vorstandsvorsitzenden des Springer-Konzerns. Bekanntlich gehören sowohl der Verlag Kiepenheuer & Witsch, bei dem „Noch wach?“ erschien, wie auch die Zeit zur Holtzbrinck-Gruppe, einem mit Springer konkurrierenden Medienhaus (JF 17/23). War der Enthüllungsbericht der Zeit nur eine PR-Aktion für Stuckrad-Barre? Wohl kaum, denn der Medienrummel um Döpfner dreht sich munter weiter.
Seine Mutter habe ihn immer vor „den Ossis“ gewarnt
Die Hamburger Wochenzeitung hatte in ihrer Ausgabe vom 13. April geleakte Auszüge aus Döpfners E-Mails und Chatnachrichten veröffentlicht. Danach äußerte er sich unter anderem abfällig über Ostdeutsche: „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ Seine Mutter habe ihn immer vor „den Ossis gewarnt. Von Kaiser Wilhelm zu Hitler zu Honecker, ohne zwischendurch US-Reeduction genossen zu haben. Das führt in direkter Linie zu AfD.“ Weiter heißt es in diesem Kontext: „Meine Mutter hat es schon immer gesagt. Die Ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen DDR eine Agrar- und Produktionszone mit Einheitslohn machen.“
Zu dem Zeit-Artikel erklärte Döpfner in einer Stellungnahme, er habe „natürlich keinerlei Vorurteile gegen Menschen aus dem Osten Deutschlands“. Allerdings sei er seit Jahrzehnten „enttäuscht und besorgt, daß nicht wenige Wähler in den neuen Bundesländern von ganz links nach ganz rechts geschwenkt sind. Der Erfolg der AfD beunruhigt mich.“ Die Veröffentlichung der E-Mails reiße seine wirkliche Meinung aus dem Zusammenhang, kritisierte der Springer-Chef: „Wie ich denke, zeigen meine über vier Jahrzehnte publizierten Artikel. Für jedes veröffentlichte Wort lasse ich mich in die Verantwortung nehmen. Aus dem Zusammenhang gerissene Text- und Gesprächsschnipsel können nicht als mein ‘wahres Denken’ dagegengesetzt werden.“
Hat Döpfner sich der Warburg-Bank ausgeliefert?
Unterdessen gibt es neue Anwürfe gegen Döpfner. In ihrer aktuellen Titelstory bezeichnet die Illustrierte Stern den einflußreichen Medienmacher sogar als „Querdenker“, ein Schlagwort, hinter dem sich Maßnahmenskeptiker während der Corona-Pandemie versammelt hatten, und führt in die „krude Gedankenwelt“ eines Mannes ein, der „seine Macht für die eigene Agenda“ einsetze. Moralisch empört fragt der Stern sodann, wie aus einem einst maßhaltenden Konservativen ein „erbitterter Kulturkämpfer werden konnte, der gegen Ostdeutsche, Muslime und Maßnahmen gegen den Klimawandel wettert“: Es sei die Geschichte einer „Radikalisierung“ – ein Begriff, der immer wieder fällt. Als Werkzeug für seinen „Kampagnenjournalismus“ habe Döpfner als deren Chefredakteur schon 1998 die Tageszeitung Welt zu einem „Kampfblatt“ (sic!) umgewandelt und darin die, so Döpfner laut Stern, „unreflektierte Zuwanderungs- und Multi-Kulti-Schwärmerei“ der damaligen rot-grünen Regierungskoalition sowie deren (heute wieder aktuellen) Pläne, das Staatsbürgerschaftsrecht zu reformieren, kritisiert. Das klingt eher nach Kontinuität denn nach Radikalisierung.
Anwürfe gegen den Springer-Verlag sind seit 1968 Tradition. Doch als Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) kritisierte Döpfner seine Branche 2019 im Kontext des Relotius-Skandals: „Haltung ist oft wichtiger als Handwerk, Weltanschauung wichtiger als Anschauung.“ Seither geht es um Persönliches.
Folgerichtig bemüht sich der Stern nun, einen privaten Kredit Döpfners zu skandalisieren, denn seine Stellung als Großaktionär des Springer-Konzerns verdankt er auch der Hamburger Privatbank M.M. Warburg & Co: Verlegerin Friede Springer bot ihm 2006 an, zwei Prozent der Anteile am Axel-Springer-Verlag für 60 Millionen Euro zu erwerben. Döpfner wandte sich an Christian Olearius, damals Partner und Mitinhaber der alteingesessenen Bank. Sie vereinbarten ein Darlehen zu marktüblichen Zinsen, das von Döpfner über den regelmäßigen Verkauf von Aktien getilgt werden sollte. Von dieser Geschäftsbeziehung versprach sich Olearius demnach Vorteile: Die Bank könne durch sie an den Springer-Verlag herangeführt werden – „mit allen Möglichkeiten“, wird der Bankier im Stern aus dessen Aufzeichnungen zitiert.
Zehn Jahre später geriet die Warburg-Bank wegen der betrügerischen Cum-Ex-Geschäfte, deren Steuerschaden sich auf 280 Millionen Euro belaufen soll, in die Schlagzeilen. Zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich damals als Erster Bürgermeister Hamburgs dafür eingesetzt haben soll, daß die Bank dem Staat entgangene Steuern nicht zurückzahlen mußte. Laut Stern habe der Springer-Chef, so suggeriert die Illustrierte, aktiv geholfen, den guten Ruf der Bank wiederherzustellen: Hierzu gedient hätten ein 2018 erschienenes Interview der Welt am Sonntag mit Olearius sowie – zwei Jahre später – ein Bild-Artikel, der wiederum Scholz in Schutz nahm. Einen Beleg dafür, daß Döpfner hinter den Berichten steckt, bleibt der Stern indes schuldig. In den Springer-Blättern wurde unterdessen auch heftig gegen Warburg und Scholz geschossen. Eine Kampagne zugunsten der Warburg-Bank?
Übrigens hat das Hamburger Thalia Theater kürzlich eine Inszenierung von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ angekündigt. Noch darf man gespannt sein, wer dort den sinistren Schurken spielt. Und auch, wer in diesem Spiel um Kampagnenjournalismus eigentlich der Schurke ist.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach? Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, gebunden, 384 Seiten, 25 Euro