Es ist bemerkenswert“, wundert sich Jonathan Schilling, „welche Einigkeit in der öffentlichen Meinung herrscht, wenn es um den westdeutschen Film der Nachkriegszeit geht.“ Der Doktorand im Fach Neuere und Neueste Geschichte der – wie sie bis vor kurzem noch nach dem letzten deutschen Kaiser hieß – Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ist jedoch als wackerer „Revisionist“ angetreten, um in einer Fallstudie über die Schauspielerin Ruth Leuwerik, deren erfolgreichsten Film („Die Trapp-Familie“) und den Geschmack des Kinopublikums der Adenauer-Zeit dieses Klischee im Säurebad historischer Kritik aufzulösen (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1/2023).
„Propagandaeinrichtungen des CDU-Staats“
Tatsächlich etabliert die von Schilling (Jahrgang 1993) ausgewertete Literatur zum Kino der frühen Bundesrepublik das Ensemble jener gemeingefährlichen Illusionen, aus denen sich das hierzulande bis heute dominante linke Welt- und Geschichtsbild der Achtundsechziger-Generation zusammensetzt. Demzufolge habe der „belanglose sentimentale Heimatfilm à la ‘Schwarzwaldmädel’ (1950) und ‘Grün ist die Heide’ (1951)“ die kollektiven Wünsche einer „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) perfekt erfüllt, die, nicht zuletzt um ihre „Schuld“ bequemer zu verdrängen, aus der alltäglichen Tristesse städtischer Trümmerlandschaften gern den Rückzug in die heile Zelluloid-Welt aus „Förstern, Wilderern und bodenständigen Bauern“ antrat. Bis auf wenige Ausnahmen, so laute der Tenor solcher mit Ressentiment bis unter die Halskrause geladenen Anwürfe, sei die Filmproduktion jener Jahre daher von „Wirklichkeitsflucht, Sentimentalität und Autoritarismus“ bestimmt gewesen. Einer Mixtur, aus der sich die Beliebtheit des angeblich „vorherrschenden Genres“ Heimatfilm als „Inkarnation provinzieller Beschränktheit“ erkläre.
Mit Konsequenz lanciere dieser Holzschnitt aufdringlich den Vorwurf, die Filmfirmen der „restaurativen Adenauer-Ära“ seien nichts weiter als „Propagandaeinrichtungen des CDU-Staats“ gewesen, die mit ihrem Personal wie mit ihrer allein dem Kommerz verpflichteten „kitschigen“ Dramaturgie und Ästhetik in der unseligen Kontinuität des Ufa-Stils stünden. Auch das Kino habe also dem damals so eingängigen CDU-Wahlslogan „Keine Experimente“ gehuldigt, so daß gesellschaftskritische „Problemfilme“, die etwa wie „Das Mädchen Rosemarie“ (1958) die doppelbödige Sexualmoral der Zeit thematisierten, zu den raren Perlen der Produktion gezählt hätten.
Dankbar kolportierten DDR-Medien wie die Zeitschrift Deutsche Filmkunst eine derartig plumpe Agitation, um die Bonner Republik einmal mehr als Hort des regenerierten „Faschismus“ vorzuführen. Als deren Urheber identifiziert Schilling eine bestens vernetzte Clique linker Publizisten, denen es gelang, die Deutung der deutschen Filmkultur vor und nach 1945 zu monopolitisieren. Enno Patalas (1929–2018), der langjährige Leiter des Münchner Filmmuseums, gehörte ebenso diesem illustren Kreis an wie der im letzten Herbst zum 90. Geburtstag im Feuilleton hymnisch gefeierte Berliner Filmhistoriker Ulrich Gregor. Auf ihrem exemplarischen „Weg nach Westen“ profilierten sich beide als enthemmte Bewunderer der Weimarer Stummfilm-„Moderne“, vor allem aber des Hollywood- und des französischen Nachkriegskinos, während das deutsche Tonfilmschaffen zwischen 1930 und 1960 in ihren und ihrer Nachbeter weit verbreiteten Büchern und Presseartikeln nach Kräften als minderwertig denunziert wurde. Wobei für Gregor/Patalas die 300 (von insgesamt 1.200 Filmen) „das Heimatgenre ausbeutenden“ Streifen der Adenauer-Ära selbstredend „unstrittig einen ästhetischen Tiefstpunkt deutscher Filmgeschichte“ markieren.
An diesem vermeintlichen „Tiefstpunkt“ betritt bei Schilling Ruth Leuwerik (1924–2016) die Bühne. Die gebürtige Essenerin drehte 1950 ihren ersten Kinofilm, dem bis 1963 noch 28 weitere folgten, bevor sie, da ihr „Prototyp“ auch in Fernsehspielen wenig gefragt war, ihre Karriere langsam auslaufen ließ. Obwohl „eine Frau von beträchtlicher Ansehnlichkeit“, wie Thomas Mann die Hauptdarstellerin seines 1954 verfilmten Romans „Königliche Hoheit“ rühmte, fiel die mit Preisen überschüttete Leuwerik, die zu jenen „großen Zehn“ des Nachkriegskinos zählte, die pro Hauptrolle mindestens 100.000 D-Mark Gage kassierten, nie durch „Sex-Getue“ auf, mied den branchenüblichen Glamour und gab sich ostentativ bescheiden.
In den ab 1949 von der Film-Revue veranstalteten Abstimmungen, die bis 1963 alljährlich die beliebtesten Darsteller und Darstellerinnen kürten, behauptete Ruth Leuwerik konstant vor Maria Schell und Lieselotte Pulver Platz eins, weit vor der „Sissy“ Romy Schneider und dem „Schwarzwaldmädel“ Sonja Ziemann. Und bei den Mimen triumphierte stets O. W. Fischer, der sowenig wie Leuwerik und Schell je in einem Heimatfilm spielte. „Alle drei Künstler stehen vielmehr prototypisch für das Melodram und den gehobenen Unterhaltungsfilm.“ Ihr Wirken, für Schilling von repräsentativem Stellenwert, sei vorzüglich geeignet, das linke Narrativ über den Heimatfilm als „Sinnbild für die biedere Gesellschaft der frühen Bundesrepublik“ ins Reich der Legenden zu verweisen.
Dreiste Geschichtsfälschungen von Filmkritikern
Auch „Die Trapp-Familie“ (1956), mit 28 Millionen Besuchern bis heute der meistgesehene deutsche Film überhaupt, sowie seine Fortsetzung „Die Trapp-Familie in Amerika“ (1958) eignen sich nicht, die Fama vom Übergewicht des Heimatgenres zu beglaubigen. Im Gegenteil: Das dafür konstitutive ländliche Ambiente sucht man hier vergebens. Stattdessen behandeln die Streifen die authentische Geschichte eines österreichischen Familienchores, der 1938 aus politischen Gründen in die USA emigriert. Daß der Regisseur Wolfgang Liebeneiner den düsteren Hintergrund des Nationalsozialismus in einem Unterhaltungsfilm derart deutlich akzentuiere, sei damals „ohne Beispiel“ gewesen. Die Hauptdarstellerin Ruth Leuwerik habe überdies keineswegs das Rollenmuster der braven Hausfrau und Mutterglucke bedient, auf das nach depperten Halluzinationen von Gregor & Co. schon das Frauenbild des Ufa-Films festgelegt gewesen sein soll. Trotzdem glaubte Karsten Witte, der 1995 an Aids verstorbene Starkritiker der Frankfurter Rundschau, die „Trapp-Familie“, auch ohne „Blut und Boden“, als „postfaschistisches Produkt mit einigen Einsprengseln faschistischer Wertungen“ stigmatisieren zu können.
Gegen solche dreisten Geschichtsfälschungen läßt Schilling Zahlen sprechen. Laut einer Umfrage von 1956 sahen gerade einmal 20 Prozent der Befragten am liebsten Heimatfilme, die 1960 nur noch für die ältere Generation zum Lieblingsgenre gehörten, während 43 Prozent der unter 25jährigen Musik-, Liebes- und Problemfilme favorisierten. Ein Trend, der sich schon um 1952, in der Hauptphase des Heimatfilms, abzeichnete. Ausgerechnet die Landbevölkerung hielt ihm am längsten die Treue, während sich Städter früh abwandten. Was auch die These widerlegt, die Hauptfunktion des Heimatfilms sei es gewesen, dem städtischen Kinopublikum mit imaginierten ländlichen Idyllen Fluchten aus ihren Trümmerlandschaften zu ermöglichen. Aber dieses Argument habe angesichts von raschem Wiederaufbau und Wirtschaftswunder eigentlich von jeher auf schwachen Füßen gestanden.
Es erstaunt nicht, wenn Schilling darauf verweist, daß der 68er-Nebel, den ein linker Klüngel über die ältere deutsche Filmgeschichte legte, sich seit den 1990ern nur dank der Arbeit von Forschern im angelsächsischen Raum langsam zu lichten begonnen habe. Unter ihnen befanden sich auch Deutsche wie Heide Fehrenbach, die sich 1995 fernab des Berliner und Münchner Blockwartmilieus erstmals der von ihr positiv beantworteten Frage widmete, was das westdeutsche Kino zur Rekonstruktion nationaler Identität nach 1945 leistete („Cinema in Democratizing Germany“, Chapel Hill/London 1995).
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