Du bist ekelhaft.“ Es sind harte Worte, die die 17jährige Ellie (Sadie Sink) ihrem Vater Charlie (Brendan Fraser) entgegenschleudert. Und in der Tat ist der Literatur-Dozent nicht besonders schön anzuschauen. Wenn er seine Schüler per digitalen Fernunterricht im Verfassen von Texten unterweist, bleibt seine eigene Kamera aus. Seine Schüler sehen nur ein schwarzes Bild. Charlie ist nicht präsentabel. Denn er leidet unter extremer Fettleibigkeit. Mit einem mordshohen Blutdruck stehen seine Chancen auf ein langes Leben kaum besser als die einer Eintagsfliege. Doch Charlie ist nicht nur deutlich zu dick, sondern auch homosexuell.
Unvermittelt taucht seine 17jährige Tochter Ellie bei ihm auf und benimmt sich wie die Axt im Walde. „Sie ist böse“, charakterisiert ihre Mutter Mary (Samantha Morton) sie. Ein Urteil, das wenig Zweifel daran läßt, was von Ellie zu halten ist. „Ich habe Sorge, daß sie vergessen hat, was für eine wunderbare Person sie ist“, verteidigt dagegen Charlie das kleine Biest. Er weiß natürlich um sein eigenes schuldhaftes Versagen als Vater, das die Ursache für so viel Ressentiment sein muß. Und der Zuschauer weiß es, sofern er kein Kino-Novize ist, auch. Gefühlt hat er so einen Vater-Tochter-Konflikt in Film und Fernsehen schon tausendmal gesehen. Lediglich die Umstände variieren von Rührstück zu Rührstück. Im Regenbogen-Zeitalter liegt die Wahrscheinlichkeit bei 99 Prozent, daß sich hier irgendwo ein LGBT-kompatibles Geheimnis versteckt, das mal dringend ans Licht kommen muß. Und da ist es auch schon: Charlie hat neun Jahre zuvor seine Zuneigung zu dem Studenten Alan entdeckt und dafür Frau und Kind im Regen stehen lassen. Und da, zumindest im Film, die Liebe ja immer recht hat, kann man es Charlie verübeln?
Daß es eigentlich ein Theaterstück ist, merkt man dem Film deutlich an
So weit, so vorhersehbar. Doch Samuel D. Hunter, der für den Film sein eigenes Theaterstück adaptierte, hat weitere Figuren eingebaut, die dem Ganzen etwas mehr Substanz geben. Neben Charlies Ex-Frau Mary wäre die Asiatin Liz (Hong Chau) zu nennen. Sie ist Alans Schwester und kümmert sich seit dessen Tod hingebungsvoll um Charlie, den der Verlust des Partners in eine schwere Krise gestürzt und auch die krankhafte Freßsucht ausgelöst hat. Tiefgang bekommt Hunters Geschichte jedoch vor allem durch den christlichen Missionar Thomas (Ty Simpkins), der in der ersten Szene des Films bei Charlie anklopft und ihm die „Botschaft der Hoffnung“ bringen möchte. Thomas gehört der Freikirche Neues Leben an und verdeutlicht dem Todkranken, daß seine Entscheidung für die Werke des Fleisches die Ursache für seine Misere ist. Er bezieht sich damit auf die Theologie des Paulus von der fleischlichen und der geistlichen Existenz des Menschen. Eine ächzende Schöpfung, die sich nach Erlösung sehnt – in Anbetracht des Fleischbergs vor ihm berührt Thomas hier in der Tat einen wunden Punkt. Aber kann ein Mensch einen anderen Menschen retten? Von Endzeitreligionen hält der Literatur-Experte, der sich bewußt für Hedonismus und gegen Entsagung entschieden hat, – wenig überraschend – nichts. Welchem Erlösungsmodell die Sympathien von Regisseur Darren Aronofsky gelten, der mit „The Fountain“ (2006) bereits eine typische New-Age-Fabel auf das Publikum losgelassen hat, ist unschwer zu erraten. Doch es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er selbst die von Thomas vertretenen biblischen Wahrheiten bewertet.
Daß „The Whale“ eigentlich ein Theaterstück ist, merkt man dem Film deutlich an. Die klassische Einheit von Ort, Zeit und Handlung bleibt gewahrt. Denn die gesamte Handlung spielt binnen einer Woche in den Privatgemächern des Adipositas-Patienten. Sie werden zu einer Art Leinwandbühne. Da der Schwerkranke sich wegen der eigenen Körperfülle kaum noch bewegen kann, bleibt nicht nur Charlie, sondern auch der Zuschauer ein Gefangener seiner eigenen vier Wände.
„The Whale“ ist ein Stück mit Licht und Schatten. Es glänzt mit einigen kreativen Einfällen wie den Reflexionen über Walt Whitman und Moby Dick, die als Seelenspiegel herhalten dürfen. Ein Schüleraufsatz über Herman Melvilles Klassiker ist die Bildebene, mit der der Film operiert, um Leerstellen und seelische Verwundungen seiner Protagonisten zu reflektieren. Andererseits langweilt das Drehbuch mit abgedroschenen Zeitgeist-Motiven aus dem akademischen Elfenbeinturm und den eingangs erwähnten Klischees.
Da also verfilmtes Theater keine Anlässe für visuelle Höhenflüge bietet, hing bei diesem Film alles an dem fünfköpfigen Ensemble. Und das macht seine Sache tatsächlich so gut, daß die Schwächen der Vorlage schnell vergessen sind. Es reiht sich ein emotional wuchtiger Auftritt an den anderen. Als verdienten Lohn dafür durfte Charlie-Darsteller Brendan Fraser als Kopf des Ensembles im März den Oscar für die beste männliche Hauptrolle mit nach Hause nehmen. Einen weiteren der begehrten Goldjungs gab es für seinen Maskenbildner. Ohne den wäre Frasers Verwandlung vom extrem beweglichen Untotenjäger (dreimal jagte er „Die Mumie“) zum immobilisierten Adipositas-Gepeinigten wohl auch nur halb so glaubwürdig ausgefallen.
Kinostart ist am 27. April 2023