© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/23 / 28. April 2023

Wenn Bürokraten durchregieren
JF-Reportage aus Dresden: Der anhaltende Migrationsdruck sorgt auch in der sächsischen Landeshauptstadt für Unruhe
Björn Harms

Am Mittwoch abend tritt Lorenz Müller auf den Balkon seiner Dresdner Wohnung. Lautes Sirenengeheul hat ihn aufgeschreckt. Blaulicht erfüllt die Straßen. Mehrere Polizeiwagen rasen in schnellem Tempo unweit des Hauses vorbei. Die Richtung, in die es geht, kennt der 36jährige Familienvater. Es ist das neu gebaute Containerdorf für Asylbewerber, die Straße runter, rund 500 Meter von seiner Wohnung entfernt. Erst Anfang April sind die ersten jungen Männer dort eingezogen, bis zu 48 Personen sollen es werden. Was also will die Polizei dort? Drei Tage später vermeldet die AfD in Dresden über ihre sozialen Netzwerke: „Am Abend des 19. April soll es in der Containerunterkunft in Dresden-Sporbitz zu einem Messerangriff unter den Bewohnern gekommen sein.“ 

In den Polizeimeldungen vom 19. April ist jedoch nichts zu finden. Mit keinem Wort wird eine solche Auseinandersetzung erwähnt. Die ersten Dresdner raunen von einer „Vertuschung“. Tatsächlich bestätigt die Polizei gegenüber der JUNGEN FREIHEIT einen entsprechenden Einsatz. Einen Messerangriff aber hätten die Beamten nicht feststellen können. „Die Dresdner Polizei wurde am Abend des 19. April gegen 21 Uhr wegen einer vermeintlichen Auseinandersetzung in die besagte Unterkunft gerufen. Vor Ort konnten die Beamten weder eine Auseinandersetzung noch Verletzte oder einen Straftatverdacht feststellen“, teilt ein Sprecher mit. Auf Nachfrage, wer denn den Notruf getätigt hätte, heißt es lapidar: „Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes alarmierte die Polizei.“ Es werde allerdings nicht aufgrund des Vortäuschens einer Notsituation oder des Mißbrauchs des Notrufs ermittelt.

Die seltsame Episode zeigt: In Dresden liegen die Nerven blank. Verunsicherung macht sich breit. Seit Monaten brodelt es in der sächsischen Landeshauptstadt. Wie überall in Deutschland wächst der Migrationsdruck von Tag zu Tag. Zahlreiche Asylbewerber kommen am Hauptbahnhof an, die meisten von ihnen laut der Stadtverwaltung aus „Syrien, Türkei, Venezuela, Afghanistan und Georgien“. Viele von ihnen werden in Hotels untergebracht, doch die Kapazitäten sind längst erschöpft. 

In großen Teilen der Dresdner Bevölkerung wächst der Unmut. Seit Monaten machen unterschiedliche Gruppen mobil. Wöchentlich finden auf den Straßen Proteste gegen die Asylpolitik statt. Die Sitzungen in den Stadtbezirksbeiräten sind längst zum Forum der Kritik und damit zur Mutprobe für die verantwortlichen Lokalpolitiker geworden, die sich den Bürgern erklären sollen. Die sächsische Landeshauptstadt will bis zum Herbst 2023 an neun Standorten im Stadtgebiet Wohncontainer für jeweils 48 bis maximal 152 Personen errichten lassen. Fast alle der Asylheime sind für Alleinreisende eingeplant, vor allem also junge Männer. Kostenpunkt: 47 Millionen Euro bei geplanten 24 Monaten Nutzungsdauer. Ein zehnter Standort, der in Dresden-Sporbitz, ist bereits geöffnet.

Ganz in der Nähe dieser Containersiedlung wohnt Lorenz Müller. Er ist Vater einer fünfjährigen Tochter, seine Frau ist derzeit schwanger. Man macht sich Gedanken über die Situation in der Nachbarschaft. Die fast schon dörfliche Gegend im Dresdner Osten haben sich Müller und seine Frau 2012 bewußt ausgesucht, gerade mit „Hinblick auf eine mittelfristige Familiengründung und den damals schon absehbaren Mietpreisdruck in innerstädtischen Lagen“, erzählt er der jungen freiheit. Es war „immer ein sehr ruhiges, wenig hippes, eigentlich nicht klassisch großstädtisches Gebiet, so an der Schnittstelle zwischen ländlichem Sachsen und der Metropole Dresden“.

Am 11. Mai trifft der Stadtrat eine endgültige Entscheidung

Die nun aufgebaute Asyleinrichtung wirke völlig deplaziert. Sie ist „völlig ohne Bindung, im Prinzip mitten auf dem Acker“, erzählt Müller bei einem Besuch des Areals. Tatsächlich gibt es in der Nähe der Container nur einen Bäcker. Einkaufsmöglichkeiten sind weit entfernt. Da sei es „objektiv völlig naheliegend, daß es dort mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu Spannungen und Konflikten kommen kann“, meint der studierte Psychologe. „Auch ich würde, zumal als junger Mann, wenn ich dort unter diesen Bedingungen auf engstem Raum länger als ein paar Wochen wäre, sehr wahrscheinlich mentale Probleme bekommen.“

Geschichten wie die eingangs geschilderte ängstigen die Bevölkerung vor Ort. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik des vergangenen Jahres können mittlerweile über 13 Prozent aller Tatverdächtigen in Dresden der Gruppe der Zuwanderer zugeordnet werden, also Asylbewerbern, Geduldeten und Flüchtlingen – ein deutlich überproportionaler Anteil gemessen an der Gesamtbevölkerung. Die Zahl der Jugendlichen unter den Straftätern steigt rasant.

Vergangene Woche brechen in Dresden zudem zwei ausreisepflichtige Asylbewerber aus ihrer Abschiebehaft aus – per Bettlaken fliehen sie aus dem Fenster, in geradezu mittelalterlicher Manier. Auf einer Pressekonferenz muß sich die Präsidentin der Landesdirektion Sachsen peinlich berührt rechtfertigen. Das Vertrauen in die Institutionen sinkt von Tag zu Tag. Soll es nun also immer so weitergehen? Mehr Migration und mehr Containerdörfer? Alle anderen Möglichkeiten der Unterbringung seien bereits ausgeschöpft, klagen die Verantwortlichen in der Verwaltung. „Ohne diese sogenannten mobilen Raumeinheiten (MRE) müßte die Stadtverwaltung schon in Kürze wieder auf Schulsporthallen zurückgreifen oder Zeltstädte aufbauen.“ Die Stadt weiß um die explosive Lage und geht deshalb mit den Planungen bewußt transparent um. Auf den Sitzungen der einzelnen Stadtbezirksbeiräte versuchen die Dresdner Sozialbürgermeisterin Kristin Klaudia Kaufmann (Linkspartei) und der Baubürgermeister Stephan Kühn (Grüne) die Gemüter zu beruhigen. Auch Anwohner können Fragen stellen.

Rhetorisch glatt und geschliffen, perfekt vorbereitet auf Fachfragen, nehmen die beiden Bürgermeister dabei die deutscheste aller Figuren an: den Bürokraten, der nicht anders kann, weil er auf Weisung von oben handelt. Über Gesetze könne man sich schließlich nicht hinwegsetzen. Doch die Frage, die auf allen Veranstaltungen immer wieder aufkommt, ist ganz einfach: Gibt es einen Punkt, an dem sich die Verantwortlichen eingestehen, daß es nicht mehr geht? Daß einfach keine Kapazitäten mehr da sind? Auf diese Frage können Kühn und Kaufmann jedoch keine passende Antwort geben, da sie eine Bewertung der Notlage gar nicht vornehmen wollen oder können. Sie handeln im Sinne des Auftrags aus Berlin, im Sinne der Vorgaben von der sächsischen Landesregierung.

Die Bürger aber merken: Sie werden hingehalten. Ihre Verunsicherung und Verärgerung findet kein Gehör. „Inwieweit gibt es auf der Verwaltungsebene, auf der kommunalen Ebene, Leute, die verstehen, daß sie in einem Rechtsstaat in einem kritischen Resonanzverhältnis stehen, sowohl zum Bund aber auch gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort?“, fragt sich auch Anwohner Lorenz Müller, der Anfang April die Sitzung des Stadtbezirksbeirats in Dresden-Leuben besuchte. Grünen-Politiker Kühn habe dort mit „moralistischen Allgemeinplätzen“ beschwichtigt, die ganze Veranstaltung sei auf ein „infantiles Niveau“ abgerutscht. Die Bevölkerung würde sich „massiv verschaukelt“ fühlen und somit resignieren. „Wir sind mittlerweile bei hochproblematischen Unterbringungsformen angekommen, die auch für die Leute, die kommen, in keiner Weise menschlich sind. Es fehlt uns völlig das Gefühl, daß die Vertreter der immerhin zwölftgrößten Stadt Deutschlands auch mal sagen: Wir schaffen das nicht.“ 

Wir wollen es nicht, heißt es hingegen aus einigen Stadtbezirken Dresdens, in denen die Beiräte über die Unterkünfte abstimmten. In Arbeitergegenden oder Randbezirken wie Prohlis, Leuben, Pieschen und Schönfeld-Weißig lehnten die Beiräte die MREs ab. In den eher bürgerlichen Bezirken wie Blasewitz, Altstadt und Cotta stimmten sie dafür. Meist kommt es auf das Wahlverhalten der örtlichen CDU und FDP an, die Mehrheiten nach links oder rechts verschieben können. In Schönfeld-Weißig wurde der Ersetzungsantrag der AfD zur Ablehnung der Unterbringung von Migranten nur durch die Stimmen ehemaliger CDU’ler angenommen. Im Streit hatte sich 2022 die örtliche Fraktion der Christdemokraten aufgelöst und sich unter dem Namen „Wir fürs Hochland“ eigenständig neu formiert.

Doch selbst die Ablehnung durch einen Stadtbezirksbeirat kann die Containerdörfer nicht endgültig verhindern. Jene Beschlüsse der Ortsbezirke sind nur „beratend“, sie stellen im besten Fall den Willen der lokalen Bevölkerung dar. Das letzte Wort aber hat der Dresdner Stadtrat, der am 11. Mai über die neun Standorte entscheiden will. Die Mobilisierung in der Stadt läuft bereits auf Hochtouren. 

Da es kein Ventil für die angestaute Wut gibt, befürchten viele eine Radikalisierung. Gerade die Freien Sachsen, die die AfD auch mit Blick auf die sächsische Kommunalwahl- und Landtagswahl 2024 von rechts unter Druck setzen, schlagen zunehmend radikalere Töne an. In Dresden organisiert Max Schreiber, ein ehemaliger NPD-Funktionär, seit Wochen lautstarke aber bis dato friedliche Straßenproteste gegen die Asylpolitik und ruft zu Störungen von Sitzungen auf: „Wir stellen dort unbequeme Fragen. Wir halten uns nicht an die Saalordnung. Die Zeit von irgendwelchen Regeln auf solchen Sitzungen ist einfach vorbei“, meint er. Am 11. Mai wird sich der Stadtrat in Dresden erneut auf eine ungemütliche Lage einstellen müssen.