© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/23 / 28. April 2023

Ländersache: Mecklenburg-Vorpommern
Rügen ist in Rage
Peter Freitag

Rügens ganzer Stolz ist der nach zwei Jahren Bauzeit fertiggestellte und frisch eingeweihte „Skywalk“ am Königsstuhl. Auf dieser frei schwebenden, 185 Meter langen und ellipsenförmigen Brücke können Besucher den atemberaubenden Blick auf die berühmten Kreidefelsen genießen – und das gefahrlos. Denn der bisherige Aussichtspunkt war aus Sicherheitsgründen wegen Erosionsgefahr gesperrt worden. Doch schon am zweiten Tag nutzten Klimaaktivisten die neue und über 11 Millionen Euro teure Attraktion, um gegen ein neues Flüssiggas-Terminal vor der Küste von Deutschlands größter Insel zu protestieren. „Aktionsgruppe VerSTOPfen“ nannten sich die Kletterer, die sich oberhalb des Skywalks mit Seilen eingehängt und Transparente gegen „die Profitgier der Gaslobby“ entrollt hatten.

In diesem Punkt dürften die Klima-Demonstranten auf viel Zustimmung bei der Inselbevölkerung stoßen. Denn gegen den geplanten größten Umschlagplatz Europas für verflüssigtes Erdgas, sogenanntes LNG, das mit riesigen Tankschiffen angeliefert und über zwei Plattformen etwa fünf Kilometer vor der Küste wieder gasförmig gemacht werden soll, laufen in der Touristenhochburg eine Menge Leute Sturm. Von mehr als 1.000 Einsprüchen gegen das Projekt ist die Rede. Über eine Pipeline würde das Gas dann nach Lubmin gebracht, wo bereits jetzt in kleinerer Dimensionen LNG per Schiff angeliefert wurde – als Ersatz für die Nordstream-Leitungen aus Rußland. 

Wirtschaftsverbände und vor allem die Fremdenverkehrsbranche befürchte Einbrüche bei den Besucherzahlen, wenn vor den berühmten Seebädern die Tanker und Abfertigungsanlagen die Sicht Richtung Horizont eintrüben. Fischer sorgen sich um die Heringsbestände, Umweltschützer warnen vor den Gefahren für die Natur. Und Rügens Kommunalpolitiker sind in Rage, weil ihre Gemeinden nicht in die Pläne eingebunden und stattdessen vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Erst gar nicht und dann erschreckend schlecht habe die Bundesregierung kommuniziert, schimpft der Bürgermeister des Ostseebades Binz, Karsten Schneider (CDU). Vor der Nordseeinsel Sylt, so  seine wahrscheinlich nicht unzutreffende Mutmaßung, würde der Bund wohl kaum so etwas errichten. 

Inzwischen heißt es, die Pläne für einen Standort in Küstennähe seien vom Tisch, man prüfe die Errichtung entsprechender Anlagen im Tiefwasserhafen von Mukran, einst Erich Honeckers Prestigeprojekt für den Handel der DDR mit der Sowjetunion. Für diese Alternative habe sich Medienberichten zufolge auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgesprochen, der gemeinsam mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vergangene Woche eigens zum vertraulichen Krisengespräch mit Verbands- und Gemeindevertretern nach Rügen gereist war. Dabei beharrten die beiden auf der grundsätzlichen Notwendigkeit eines solchen Terminals auf der Insel. Allein über die Anlagen an der Nordseeküste, Importe aus westeuropäische Häfen oder Pipelines aus Norwegen werde man die Versorgung insbesondere der östlichen Bundesländer nicht sichern. Skeptiker warnen unterdessen bereits davor, es würden bald bloß Überkapazitäten geschaffen.