Derzeit gibt es bei zehn Allergiemedikamenten Lieferengpässe. Betroffen sind das Heuschnupfenspray Mometason und das Antihistaminikum Fexofenadin. Die Wirkstoffkombination Natriumcromoglicat/Reproterol für Asthmatiker sei bis Ende September nicht mehr erhältlich, warnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Viele Patienten könnten statt Fexofenadin zwar Ebastin nehmen, doch dazu sei ein neues Rezept notwendig, erklärte der Apothekerverband Nordrhein. Auch das Antibiotikum Cefalexin ist laut BfArM-Lieferengpaßliste bis August nicht lieferbar. Beim Schmerzmittel Morphin Aristo und dem Penicillamin Metalcaptase gebe es „Produktionsprobleme“. Auch das Diabetiker-Medikament Metformin findet sich auf der Engpaßliste.
Das nun vom Ampel-Kabinett beschlossene „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ soll künftig Abhilfe schaffen: „In der Arzneimittelversorgung haben wir es mit der Ökonomisierung übertrieben“, erklärte SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach. „Wir machen Deutschland wieder attraktiver als Absatzmarkt für generische Arzneimittel. Wir stärken europäische Produktionsstandorte. Und wir verbessern die Reaktionsmechanismen.“ Doch die Probleme sind grundsätzlicher: Das Gesetz bringe „halbherzige, komplizierte Maßnahmen allenfalls zu Teilaspekten“, kritisierte Hubertus Cranz vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH).
Für 6,9 Milliarden Dollar an die US-Pharmafirma Abbott verkauft
Doch warum ist Deutschland, die einstige „Apotheke der Welt“, überhaupt so abhängig von Wirkstoff- und Medikamentenlieferungen aus dem Ausland? Es liegt nicht nur am „Hauptsache billig“-Prinzip sowie den Rabattverträgen und Preisobergrenzen für Arzneimittelhersteller, wie Kai Joachimsen vom Pharmaverband BPI zu Recht kritisiert – Politik und manche Manager haben jahrzehntelang in Deutschland entwickelte Zukunftstechnologien faktisch ins Ausland vertrieben. Der Atomausstieg ist nur ein aktuelles Beispiel dafür. Kennt jemand noch die 1886 gegründete Pharmafirma Knoll, die 1975 von der BASF übernommen wurde? Anfang der achtziger Jahre wurde dort an einem Krebsmedikament geforscht, dem Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) Alpha. Dieser Botenstoff des Immunsystems sollte Tumorzellen zur Selbstzerstörung anregen, ein zukünftiges Wundermittel.
Der gentechnisch hergestellte Wirkstoff floppte allerdings in der klinischen Anwendung. Man entwickelte deshalb künstliche Antikörper, die den Tumornekrosefaktor neutralisieren sollten. Durch die Hemmung des Entzündungsbotenstoffes TNF werden überschießende Reaktionen des Immunsystems gedämpft und somit Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Darmerkrankungen wie Morbus Crohn im Verlauf günstig beeinflußt. Neben BASF/Knoll kamen die meisten anderen Antikörper-Biotech-Pioniere aus den USA oder wurden von angelsächsischen Konzernen übernommen.
Dennoch verkaufte BASF zu Beginn der neunziger Jahre Teile der eigenen Forschungsergebnisse an die US-Firma Immunex, aus welchen deren Forscher den Rheuma-Blockbuster Enbrel mit inzwischen über 100 Milliarden Gesamtumsatz entwickelten. Und 2002 wurde die BASF-Pharmasparte für 6,9 Milliarden Dollar an den US-Konkurrenten Abbott verkauft. Zu diesem Zeitpunkt befand sich bei Knoll der monoklonale Antikörper D2E7 bereits in den letzten Phasen der klinischen Erprobung. Er wurde unter dem Namen Humira am 31. Dezember 2002 in den USA zur Behandlung von Rheuma zugelassen – von Abbott aus Illinois.
Humira gehört zu den Substanzen, die die Behandlung von Rheumatischen Erkrankungen revolutionierten – Betroffene mit beispielsweise schwer von Gelenkentzündungen deformierten Händen sieht man deswegen heutzutage glücklicherweise nicht mehr. Über zwei Jahrzehnte konnte Abbott (seit 2012 unter dem Namen AbbVie) mit Humira einen Umsatz von deutlich über 200 Milliarden Dollar generieren, alleine 2022 über 21 Milliarden Dollar. Der damalige BASF-Vorstand Eggert Voscherau deutete in einem Interview mit dem US-Branchendienst Pharma Letter an, daß er erst bei der Suche nach Partnern für die Vermarktung von D2E7 von den Umsatzmöglichkeiten erfuhr – und dennoch ging Knoll an die Amerikaner.
Aber die BASF-Manager hörten lieber auf den Berater-Sprech vom „auf das Kerngeschäft konzentrieren“ und „das Kapital für den Ausbau der Agrar-Sparte nutzen“. Doch der BASF-Agrarbereich machte 2022 nur einen Bruchteil des Humira-Jahresumsatzes aus. Zwischen 2014 und 2016 liefen zwar die wichtigsten Schlüsselpatente für den Blockbuster Humira aus, doch die Abbvie-Manager schafften es dennoch, den Schutz vor günstigeren Nachahmer-Medikamenten um mehr als sechs Jahre mit etwa 300 flankierenden Nachfolgepatenten zu verlängern. Humira wurde dank dieser Strategie zum umsatzstärksten Arzneimittel der Welt. In den zwanzig Jahren seiner kommerziellen Anwendung wurden zudem dreißigmal die Preise erhöht, zuletzt in den USA um acht Prozent.
Angstkampagne wegen eines „biologischen Restrisikos“
Die damaligen BASF-Fehlentscheidungen stehen im Zusammenhang mit den Gentechnik-Verboten und der systematischen Hysterisierung der Deutschen durch grüne Politiker. So warnte der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer vor dem „biologischen Restrisiko“ der medizinischen Gentechnik. Die Herstellung gentechnisch erzeugten Insulins in der damals modernsten Produktionsanlage des Weltkonzerns Hoechst wurde zwölf Jahre lang verhindert – aber gleichzeitig „Gen-Insulin“ aus den USA importiert. Heute wird lieber Atom- und Kohlestrom importiert, statt die eigenen deutschen AKWs weiterzubetreiben.
Vor 34 Jahren wurde im Tauziehen von Bürgerrechtsgruppen, Politikern, Journalisten und Managern, umrandet von juristischen Winkelzügen und miserabler Öffentlichkeitsarbeit von Hoechst eine der Schlüsseltechnologie, die Arbeitsplätze, sozialen Frieden und Fortschritt sichern sollte, verspielt. Die „Gentechnik“, so der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel 1989, berge ein zu großes Gefährdungspotential, weshalb strengste Sicherheitsauflagen mit hyperbürokratischen Genehmigungsverfahren nötig seien. Die medizinisch-pharmazeutische Genforschung wurde so in Deutschland praktisch zum Stillstand gebracht.
Das Frankfurter Insulin-Werk ist heute ein Museum, und der Haupteil von Hoechst wurde 1999 an die französische Firma Rhône-Poulenc (danach Aventis und ab 2004 Sanofi) verkauft. Der Rest wurde mit Riesengewinnen für die Investmentindustrie in Einzelfragmente zerstückelt. Dazugelernt hat man nichts – bezüglich der wegweisenden
Crispr/Cas-Technologie werden wieder Sicherheitsbedenken laut. In den USA und China werden hingegen wegweisende Therapien entwickelt.
Biontech und Bayer investieren im Ausland – daran wird auch Lauterbachs Engpaßgesetz nichts ändern. Und in der Entwicklung neuer Medikamente spielt Deutschland kaum eine Rolle mehr.
Lieferengpässe bei Arzneimitteln: