Der am 4. Juni 1867 in Hamburg geborene Völkerkundler Alfred Vierkandt hatte mit „Die Stetigkeit im Kulturwandel“ (1908) ein Buch vorgelegt, wonach der Mensch anders als das Tier nicht über ein natürlich scheinendes Verhaltensrepertoire verfügt, sondern auf Kultur angewiesen bleibt. Mit der Kultur wandelt sich der Mensch. Damals gab es schon eine Tierpsychologie, aber beim Menschen schaffe „jedes Zeitalter (…) seine eigene Psyche“. Deshalb wird die europäische Psychoanalyse auch für Japan umgeschrieben, wie Michael Landmann in „Fundamental-Anthropologie“ (1979) hinzuzufügte. Vierkandts Buch trägt den Untertitel „Eine soziologische Studie“. Selbstverständlich war das damals nicht. Es gab noch keinen Lehrstuhl für Soziologie in Deutschland. Aber einige arbeiteten an der Herausbildung einer deutschen Soziologie: Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel, Werner Sombart. Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) erfolgte dann am 3. Januar 1909. Nur Vierkandt überlebte sie alle und wirkte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität noch in der Nachkriegszeit, 1945 zur Humboldt-Universität unbenannt. Er starb in Berlin am 24. April 1953.
Als Hauptwerk gilt Vierkandts „Gesellschaftslehre“ von 1923. Das blieb der formalen Soziologie von Georg Simmel und auch Ferdinand Tönnies verbunden. 1936 folgte Vierkandts sogenannte „Kleine Gesellschaftslehre“, geschrieben in innerer Emigration. Häufiger wird noch das von Vierkandt herausgegebene „Handbuch der Soziologie“ (1931) erwähnt, das Helmut Schelsky 1959 neu herausgab, weil es ihm zu sehr den Stand der deutschen Soziologie am Ende der Weimarer Republik abbildete.
Vierkandt wirkte in der Gruppensoziologie nach. Um so überraschender, wie wenig einfühlsam die von Bernhard Schäfers 1980 herausgegebene „Einführung in die Gruppensoziologie“ ausfällt: Vierkandts Artikel „Gruppe“ aus besagtem Handbuch sei Geistesgut aus den 1920er Jahren, als „Wesensschau, Lebensphilosophie“ mit „analytisch wenig ergiebiger Begriffsscholastik“ abzuheften. Damit nicht genug, sei von einer „geradezu ärgerlichen Nicht-Berücksichtigung aller bis dato erarbeiteten gruppensoziologischen Konzepte und Theorien“ zu sprechen. Andere haben sich darüber nicht geärgert, sondern sich gefreut, daß Vierkandt als seinerzeit zentraler Vertreter der Gruppensoziologie sein Verständnis von Gruppe abgerundet vorgelegt hatte. Gottfried Eisermann etwa druckte den genannten Text von Vierkandt in seinem „Soziologischen Lesebuch“ (1968) nach und empfahl ihnals Einstiegslektüre in sein Werk.
In „Kleine Gesellschaftslehre“ hatte Vierkandt sein Grundverständnis über die „großen Lebensge-meinschaften“ des Menschen dargelegt: die „Ausführungen sollen ganz allgemein für jedes Volk, für jedes Zeitalter gelten“. Es ging Vierkandt um „Typen“ im Sinne von Idealtypen, gezeichnet „durch Besinnung auf dasjenige“, was für ein bestimmtes Gruppenphänomen wie die Familie durch Überzeichnung und Weglassungen erst sichtbar werde. Mit dem Grundbegriff der Gruppe eng verbunden war bei Vierkandt der Individualismus. Jeder Mensch bedarf der Einbindung in eine Gruppe, selbst dann, wenn er als Einsiedler lebt, weil er in sich aus seiner Gruppe von der kleinsten Einheit bis zum Staat objektive Kultur in sich aufgenommen habe. Individualismus könne bedeuten, seine Individualität in Abstimmung und Spannung mit der Gruppe zu leben und sich zu entfalten, etwa seinem Bildungsdrang nachzugehen.
Wer auf Kosten der Gruppe nur sein eigenes Interesse verfolgt, wird das Vierkandt zufolge zu spüren bekommen, etwa durch das Recht. Man denke an Parteikarrieristen, die nur sich und ihrer Karriere genügen und andere mit unlauteren Methoden ausstechen. Hier wird die Parteigerichtsbarkeit gebraucht, um für eine gewisse Ordnung zu sorgen. Würden alle Foulspiele ungerügt bleiben und zur Normalität, es entstünde in der Gruppe Chaos. Auf der anderen Seite kann eine allzu dominante Gruppe das Individuum erdrücken. Das war zur Zeit des Totalitarismus augenscheinlich.
Für Vierkandt war die Sprache, die Beeinflussung der Worte, etwas, in deren Mittelpunkt der „wirkende Mensch die Hauptsache“ sei. Es komme zur „merkwürdigen Durchdringung von sachlichem Wissen und gefühlsmäßiger Grundlage“. Nach Landmanns „Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur“ (1961) genügt es aber nicht, die Sprache oder Sitte als „etwas Soziales“ auszumachen. Diese Gebilde hätten gegenüber dem Sozialen etwas Eigenständiges: „Wohl lebt die Sprache nur in den Sprechenden, aber dennoch hat sie ihre eigentümlichen objektiven Gesetze, die keineswegs Sozialgesetze, sondern immanente Sprachgesetze“ sind und „nach denen die, die sie benutzen wollen, sich richten müssen“. Richtet sich aber heute ein Soziologe, der gendert, nach der Sprache oder benutzt er die Sprache, um die Gesellschaft zu verändern?
Jeder Mensch bedarf der Einbindung in eine Gruppe
Was Vierkandt oder der Simmel-Forscher Landmann dazu sagen würden, ist seriös kaum zu beantworten. Aber was Landmann in seinen Vierkandt überbietenden Überlegungen hinzufügt, ist erhellend: „Die Sprachgemeinschaft kann zwar die Sprache ändern, aber sie kann auch dies nur innerhalb gewisser Grenzen und in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten, die die Sprache von sich aus hierfür bietet.“ Das ist das Problem, nicht was die Sprache „von sich aus“ ermöglicht, ist sprachlich opportun, sondern sie zu entstellen wird zur Normalität. Die Sprache ist etwas, die wir nicht nur schaffen, sondern die auch uns prägt. Was soll das für eine Prägung sein, wenn die Sprache nicht mehr lebendig, sondern geholzt ist? Ein Gedicht kann so nicht entstehen, die die Liebe über die Dinge legt. Es bleibt die Gendersprache Teil technokratischer Gesellschaftsveränderungen über die Köpfe anderer hinweg. Fragt sich, wie lange das die Sprache noch mitmacht, ob ihr Eigenleben nicht darüber hinweggehen wird.
Auch andere bedienten sich noch bei Vierkandt und verbesserten ihn. Siebzig Jahre nach Vierkandts Tod haben sich auch einige seiner Begriffe aus dem 19. Jahrhundert überlebt, von den „Primitiven“ ist heute kaum noch zu sprechen, auch der Begriff der „Naturvölker“ gilt eher als Verlegenheitslösung, weil das suggeriert, diese hätten keinerlei Kultur. Sprache stößt auch an Grenzen des Mitteilbaren. Aber die Gender-Pseudosprache zeigt in der Soziologie keinen Erkenntnisgewinn, sie zeigt allenfalls an, wer beim Nachdenken über Sprache hinter die ersten deutschen Soziologen wie Vierkandt zurückfällt.