Daß ein Schulanfänger hierzulande die deutsche Sprache nur unzulänglich beherrscht, ist heute keine Seltenheit. Als der junge Baldur von Schirach, der später zum Reichsjugendführer und Gauleiter von Wien aufstieg, in Weimar eingeschult wurde, war das anders. „Um Gottes willen, der Junge kann ja kein richtiges Deutsch und soll Ostern zur Schule!“, habe sein Vater ausgerufen, wie von Schirach in seinen 1967 in Hamburg erschienenen, seitdem nie wieder aufgelegten Erinnerungen „Ich glaubte an Hitler“ schreibt.
Daß der kleine Baldur, Jahrgang 1907, fast nur Englisch sprach, lag an seiner Herkunft. Sein Urgroßvater Karl Benedikt von Schirach war 1855 nach Amerika ausgewandert. Dessen Sohn Friedrich Karl, Baldurs Großvater, kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg für die Nordstaaten, brachte es bis zum Major. In der Schlacht am Bull Run verlor er ein Bein. Nachdem Präsident Abraham Lincoln bei einem Theaterbesuch ermordet worden war, gehörte Friedrich Karl von Schirach mit einem Bein aus Kork zur Totenwache. Trotz seiner Prothese soll der Kriegsheld ein beliebter Tänzer auf den großen Bällen in Philadelphia und Baltimore gewesen sein. Er heiratete ein Mädchen aus begüterter Familie, Elizabeth Baily Norris, deren Vater Miteigentümer der Lokomotivfabrik „Norris Locomotive Works“ in Philadelphia war.
Seine Ahnen gehörten 1776 zu den Gründervätern der USA
Nach der Reichsgründung 1871 kehrte Friedrich Karl von Schirach mit seiner amerikanischen Frau nach Deutschland zurück, lebte in Kiel, wo Baldurs Vater Carl Baily geboren wurde, und ließ sich schließlich in Lübeck nieder. Zeitlebens behielt er seine amerikanische Staatsbürgerschaft. Baldurs Vater mußte sie ablegen, als er in die preußische Armee eintrat. Das hinderte den jungen Offizier nicht, bei einem Besuch der Verwandten in Philadelphia erfolgreich um die Hand der hübschen 23jährigen Emma Middleton Lynah Tillou anzuhalten, die ebenfalls zum Norris-Clan gehörte – Baldurs Mutter. Emma war die Tochter eines New Yorker Richters hugenottischer Abstammung. Ihre mütterlichen Vorfahren waren Plantagenbesitzer und einflußreiche Politiker im Süden. Arthur Middleton wurde zweimal zum Gouverneur von South Carolina gewählt und gehörte als einer der amerikanischen „Gründerväter“ zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten.
Baldur von Schirach wird in Berlin geboren, wo sein Vater Offizier des Garde-Kürassierregiments ist. Kaiser Wilhelm II. habe sich mit seiner Mutter damals gern auf englisch unterhalten, so Schirach. Ein Jahr nach Baldurs Geburt nimmt der Vater seinen Abschied als Rittmeister und tritt in die Dienste des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach ein, der ihm die Intendanz des Weimarer Hoftheaters angeboten hat. Das Theater ist nach einem Brand gerade neu errichtet und 1908 eingeweiht worden. „He looks just like the porter of the hotel Elephant“, sagt Baldur zu seinem älteren Bruder Karl, als ihr Vater in seiner Hoftracht als großherzoglicher Kammerherr auftritt. Nach dem Weltkrieg ist es vorbei mit der Pracht. Der Großherzog muß abdanken, Carl Baily von Schirach verliert seinen Job. Baldurs Bruder Karl erschießt sich in der Klosterschule Roßleben, weil er nach dem Versailler Vertrag keine Zukunft mehr sieht.
Schirach erlebt diese Zeit im Waldpädagogium auf dem Hexenberg in Bad Berka bei Weimar, einem Reforminternat, wo sich Schüler und Lehrer duzen. In Weimar lernt er Hitler kennen und fühlt sich schnell in seinen Bann gezogen. Nach einer Wagner-Aufführung stattet Hitler den Schirachs in ihrer Villa in der Gartenstraße 37 einen Besuch ab. Baldurs Mutter überreicht er Blumen, küßt ihr die Hand. Beim Nachmittagstee unterhält man sich über Musik und Kunst. Die Amerikanerin ist beeindruckt. „How well he behaves!“, lobt sie den Gast. Hitler rät dem jungen Baldur, zum Studium nach München zu kommen. Schon damals habe er „felsenfest“ daran geglaubt, daß Hitler einmal die Macht übernehmen werde, so Schirach. Und dann werde er Mitarbeiter brauchen, die „von seiner Weltanschauung durchdrungen“ wären. Bei seinem „weltoffenen Elternhaus und den engen verwandtschaftlichen Beziehungen“ nach Amerika habe es nahegelegen, „daß ich auch an die Diplomatenlaufbahn dachte“. Baldur von Schirach als deutscher Botschafter in Washington? Diese Idee soll später in Hitlers Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Im Herbst 1928 reist Baldur mit seiner Mutter für zwei Monate in die USA. Im Penthouse in der 24. Etage eines Wolkenkratzers über Manhattan trifft er seinen Onkel, den Wallstreet-Bankier Alfred Norris, der von den wirtschaftlichen Möglichkeiten Amerikas schwärmt. Und ihm ein Angebot macht. „Warum bleibst du nicht gleich hier, Baldur? Du kannst sofort in meine Firma eintreten.“
Doch Schirach zieht es zurück nach München. „Eines Tages rannte ein junger Mann in hellem Anzug die Treppe herauf, den Yankee Doodle pfeifend; er war eben aus Amerika zurückgekommen, er war der Chef, Herausgeber und Redakteur, der Führer des Studentenbundes, Redner bei den Astawahlen“, erinnert sich seine spätere Gattin Henriette, Tochter von Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann, in ihrem lesenswerten Erinnerungsbuch „Der Preis der Herrlichkeit“. Baldurs Mutter, genannt Mamsie, so Henriette von Schirach, habe später zu ihr gesagt: „Wenn dieser dumme Krieg vorbei ist, fahren wir nach New York und hinaus zu den Catskill Mountains, wo ich geboren bin.“
Es kam anders. Baldur von Schirach verbrachte 20 Jahre im Spandauer Gefängnis. Mamsie starb 1944 beim Absturz eines Flugzeugs auf ihr Haus in Wiesbaden, wo ihr Mann noch einige Jahre Theaterintendant gewesen war. Carl Baily von Schirach kehrte nach Weimar zurück und lebte bis 1949 in einer Dachkammer seiner Villa, in die inzwischen die sowjetische Kommandantur eingezogen war. Die Gartenstraße, die im Dritten Reich den Namen des völkischen Literaturwissenschaftlers Adolf Bartels trug, benannten die Amerikaner bei ihrem Einzug in Weimar 1945 um. Sie heißt seitdem Abraham-Lincoln-Straße.