In den 1960ern führten die Vereinigten Staaten zwei Kriege, den in Vietnam und den gegen die Armut im eigenen Land. So wie überlegene Expertise, Logistik und Technologie den Kriegserfolg des militärisch aus dem vollen schöpfenden Staates in Übersee zu verbürgen schien, so sollte auch der 1964 von Präsident Lyndon B. Johnson erklärte Krieg gegen die Armut, die sich in heruntergekommenen Stadtvierteln und großstädtischen Ghettos ballte, mit einer wissenschaftlich angeleiteten bundesstaatlichen Sozialpolitik leicht gewonnen werden. Diesen Feldzug im Innern koordinierte das 1965 gegründete Department of Housing and Urban Development (HUD).
Doch der vermeintlich omnipotente Staat scheiterte sowohl an der fernöstlichen als auch an der sozialpolitischen Heimatfront. Im August 1965, die US Army befand sich in Vietnam bereits auf der Verliererstraße, brachen in Los Angelos schwere Rassenunruhen aus, die nach einer Woche mit einer Bürgerkriegsbilanz von 34 Toten, 1.000 Verletzten, 4.000 Verhafteten, 1.400 Bränden und 600 teils oder ganz zerstörten Gebäuden endeten. Eine solche Gewaltexplosion wiederholte sich 1967 in schlimmerer Form in Detroit, wo nach fünf Tagen Straßenkampf 43 Tote auf dem Platz blieben und 12.000 Soldaten und Nationalgardisten nötig waren, um 7.000 an den Plünderungen von 1.700 Geschäften beteiligte Chaoten zu verhaften. Insgesamt kam es 1967 in 128 Städten zu Unruhen der „Abgehängten“, wobei die Haupttätergruppe sich aus dem Heer der jungen schwarzen, gering qualifizierten, arbeitslosen Männer rekrutierte, die nach 1945 im Zuge der Binnenmigration aus den Südstaaten in die industriellen Zentren des Nordens gewandert waren, die seit Mitte der 60er in den ökonomischen Abwärtsstrudel gerieten.
Um die dadurch verursachte „Urban Crisis“ in den überdurchschnittlich unter Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungselend und Diskriminierung leidenden schwarzen Bevölkerung zu bewältigen, flossen aus dem HUD-Etat erhebliche staatliche Ressourcen in die Stadtentwicklung, ins Gesundheitswesen, die kommunale Armutsbekämpfung, den sozialen Wohnungsbau, in Schulen und Fortbildungsprogramme. Die vom Fortschrittsoptimismus befeuerte Regierung Johnson sah in dieser Modernisierung das Kernelement ihres innenpolitischen Projekts der „Great Society“, das auf die Herstellung harmonischer Sozialbeziehungen in einer befriedeten pluralistischen Demokratie zielte. Noch herrschte der technokratische Glaube vor, mit Social Engineering die Krisen kapitalistischer Industriegesellschaften rational und effizient lösen zu können. Noch galt in der Administration des Demokraten Johnson das Staatsverständnis aus der New-Deal-Ära Franklin D. Roosevelts, wonach der in den USA ohnehin nur rudimentär entwickelte Staat zumindest die Pflicht habe, die Gesellschaft gegen die Risiken und Gefahren des Industriekapitalismus, primär gegen extreme Armut und soziale Ungleichheit zu schützen.
Regierbarkeit stark segmentierter Gesellschaften sei eine Illusion
Obwohl auch Johnsons Nachfolger, die Republikaner Richard Nixon und Gerald Ford sowie der Demokrat Jimmy Carter seine Urban Policy fortführten und in den 1970ern die Transferzahlungen, die der Bund in Form von Federal Grants an die Kommunen und Einzelstaaten ausschüttete, rapide stiegen, nahm die Kritik an den durch staatliche Interventionen nicht behebbaren, weil systemimmanenten sozialen Mißständen nicht ab. Daß unter der dünnen Zivilisationsdecke weiterhin das Potential zum Aufstand vorhanden war, zeigte die Nacht vom 13. auf den 14. Juli 1978, als es in New York City im Zuge eines „Blackout“ zu schwersten Unruhen kam, die mit Plünderung, Brandstiftung und Vandalismus an das Horrorjahr 1967 erinnerten. Ungeachtet partieller Erfolge der HUD-Programme schien die „Urban Crisis“ gegen Ende von Jimmy Carters Präsidentschaft weiterhin akut – mit Arbeitslosigkeit, Rassendiskriminierung und verödenden Vierteln, in denen Kriminalität und Gesetzlosigkeit grassierten.
Vor diesem Szenario vollzog sich der Aufstieg jener neoliberalen Kräfte, die schon Johnsons Great- Society-Utopie bekämpft hatten, die das Vertrauen in die staatliche Regierbarkeit stark segmentierter demokratischer Gesellschaften für eine Illusion hielten und die 1980 den Republikaner Ronald Reagan ins Weiße Haus brachten.
Wie die Historikerin Ariane Leendertz (Bayerische Akademie der Wissenschaften) in ihrer Wissenschafts-, Ideen- und Politikgeschichte verbindenden Habilitationsschrift „Der erschöpfte Staat“ ausführt, ebnet das Scheitern dieser Politik, noch bevor Reagan 1980 radikal mit ihr brach, einem Transformationsprozeß den Weg, der durch tiefgehende strukturelle Veränderungen in den USA und in den westeuropäischen Industriegesellschaften nicht weniger als den Beginn einer neuen Epoche markiert. Wir leben demnach, so lautet die „Großthese“ der jüngeren deutschen und US-amerikanischen „gegenwartsnahen Zeitgeschichte“, an die sich Leendertz mit ihrer Untersuchung anschließt, „in einem völlig anderen Zeitalter als noch in den 1970er und den 1980er Jahren“. Die moderne Industriegesellschaft, ihre nationalen Institutionen, Strukturen und ökonomischen Grundlagen, ihre kulturellen Selbstverständnisse und ihr „starker Staat – das war einmal“.
Anstelle der New Deal Order und des wohlfahrtsstaatlich regulierten westeuropäischen Kapitalismus trat ein neoliberales Gesellschaftssystem mit „unternehmerischen Logiken“. Neoliberalismus ist für Leendertz kein polemischer, sondern ein analytischer Begriff, ohne den sich die Tragweite der Transformationsprozesse im Zeitalter der Globalisierung gar nicht erfassen ließe. Das galt sowohl für men Umbau staatlicher Institutionen, staatlicher Daseinsvorsorge und Leistungserbringung nach den anarcholibertären Regeln des New Public Management, als auch für die Einführung marktförmiger Instrumente und Organisationsprinzipien in den Bildungssektor und ins Gesundheitswesen, noch die Durchsetzung neuer Handlungsorientierungen nach dem Mantra von „Flexibilität, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit“. Die soziale Ordnung als Ganzes habe sich infolgedessen zugunsten des privatwirtschaftlichen Regimes und seiner Akteure verschoben. Neue Denk-, Handlungs- und Machtstrukturen seien entstanden, die den einst so souveränen „Problemlöser Staat“ zu einem unter vielen Teilnehmern am Gesellschaftsspiel degradierten.
Nicht wenige neoliberale Ideologen würden Leendertz’ vor der Corona-Pandemie und vor dem Ukraine-Krieg formulierter These vom überforderten Staat heute wohl widersprechen. Zwar scheitert der Staat nach wie vor daran, die soziale Komplexität spätkapitalistischer Unordnung zu meistern, und überdies dürfte ihm sein Detroit 2.0 angesichts eskalierender Verteilungskämpfe und ethnischer Konflikte in multikulturellen Einwanderungsgesellschaften noch bevorstehen. Aber als, wenn auch höchst unglücklich agierender, Krisenmanager hat sich der Staat während der Corona-Pandemie und beim Aufbau des digitalen Überwachungskapitalismus nach chinesischem Vorbild doch zurückgemeldet. Mehr noch: In seinen Freiheit, Eigentum und Wohlstand seiner Bürger derzeit auf dem Altar der „Klimaneutralität“ brutal opfernden ökodiktatorischen Reaktionen auf die selbstverschuldete Energiekrise schaut er eher beängstigend pumperlgesund als erschöpft aus.
Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus. Hamburger Edition, Hamburg 2022, gebunden, 480 Seiten, 40 Euro