Umgekippte Tische und Stühle. Sessel, aus denen die Füllung quillt. Der Teppich zerfetzt. Allein der Billardtisch scheint heil geblieben. Die Scherben der Zecherei hat die Bedienung wohl noch zusammengekehrt, nachdem sie die Betrunkenen an die frische Luft gesetzt hat. So sieht es also aus, wenn die Prager Bohème in der Zwischenkriegszeit im Kaffeehaus zu lange diskutiert und dabei einen über den Durst trinkt. Zumindest in der Phantasiewelt der Brüder Martin und David Koutecký. Die beiden tschechischen Künstler haben für die Sonderschau im Dresdner Lipsiusbau eine Installation geschaffen, die vom Foyer bis ins Untergeschoß reicht – oben das Kaffeehaus, unten befindet sich „das Atelier des avantgardistischen Malers Zloutek samt seiner Wohnung, Küche und Toilette“ – so auch der Titel.
Wirkt schon das nachempfundene Café höchst skurril, so ist das Untergeschoß samt Hunderter Kuriositäten und phantasievoller Kompositionen, die einem Wimmelbild gleich zum Entdecken einladen und einen längeren Aufenthalt wert sind. In Atelier und umgebende Räume sind die Gedanken der Nacht gefallen, wo sie ein Eigenleben führen und der imaginäre Künstler Zloutek beim Aufwachen vielleicht selbst erstaunt ist, was er da im Rausch geschaffen hat. So zumindest die Intention, die Hauptkurator Jiří Fajt den beiden Schöpfern der Installation unterstellt.
Und das ist erst der Anfang. Willkommen in der Welt der zeitgenössischen tschechischen Kunst, die sich vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit erstreckt, die ihre Blütezeit aber zweifelsohne in den 1920er und 1930er Jahren in Prag und Paris hatte und von der, so Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD), in Deutschland kaum jemand etwas wußte, auch sie selbst nicht: „Mein Anker war František Kupka, der ist natürlich sehr berühmt, vielleicht noch Otto Gutfreund. Aber ansonsten, es fängt schon an bei Toyen, der großen Surrealistin, die den Artifizialismus gegründet hat, in Frankreich rezipiert worden ist – aber nicht in Deutschland. Und es geht weiter über Positionen der klassischen Moderne, die Brüder Čapek und Bohumil Kubišta – für die tschechische und auch die aktuelle Kunstszene natürlich die größten Heroen der Moderne. Aber bei uns letztlich nicht bekannt.“
Die Prager Künstler zog es vor allem nach Frankreich
Nicht einmal das zeitgenössische Dresden nahm zur Kenntnis, was jenseits des Elbtals an der Moldau geschaffen wurde. Trotz ihrer geographischen Nähe waren die modernen Kunstszenen in den Hauptstädten Sachsens und der neu entstandenen Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit „auffallend unterschiedlich geprägt“, weiß Fajt. Prag sei maßgeblich von der surrealistischen Ästhetik des Pariser Breton-Kreises beeinflußt gewesen, Dresden von den späten Einflüssen der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“ und der „Dresdner Sezession Gruppe 1919“. Eine Ausnahme bildete Bohumil Kubišta, der Mitglied der „Brücke“ war, die schon 1905 auf einer Präsentation des Kunstvereins vertreten war, der eben in jenem Lipsiusbau, in dem jetzt 51 tschechische Künstler mit 250 Werken präsentiert werden, seine Ausstellungsräume hatte.
„Nur selten begegnete man in Dresden, wo eine künstlerisch sachlich-konkrete Ausdrucksweise dominierte, den abstrakt-konstruktiven Experimenten der ansonsten einflußreichen Bauhausbewegung aus Weimar und Dessau“, heißt es in einem erklärenden Text: „Ebenso wären Kupkas radikale geometrische Kompositionen in Prag nicht denkbar gewesen.“ Eine seltene Ausnahme bildete in Dresden der Salon der Mäzenin Ida Bienert, ein Treffpunkt für die Avantgarde. Ob sich der hier verkehrende Piet Mondrian – die Ausstellung zeigt eines seiner Werke – und Kupka in ihrem jeweiligen Schaffen zur Kenntnis nahmen, wie Ackermann nahelegt, ist nicht belegt.
Die Prager Künstler zog es nicht nach Dresden und nur für kurze Zeit nach Wien, sondern vor allem nach Frankreich. Viele emigrierten schon in den 1870/80er Jahren nach Paris, blieben dort ein paar Jahre oder für immer. „Diese frankophone Affinität der tschechischen beziehungsweise damals tschechoslowakischen Szene prägt die bildenden Künste bis heute“, sagt Kurator Fajt, der mit „Alle Macht der Imagination“ im Lipsiusbau auf der Brühlschen Terrasse bis zum 9. Juli eine weitere böhmische Enklave innerhalb des Kunstfestivals „Tschechischer Saison in Dresden“ geschaffen hat, zu der auch die Schau „Imaginarium“ im Japanischen Palais auf der anderen Seite der Elbe gehört.
Orientierung nach ganz Mittel- und Osteuropa
Der im Stil der Neorenaissance zwischen 1887 und 1894 errichtete Lipsiusbau, eines der letzten kriegsversehrten Gebäude in der Innenstadt – sein äußeres Kennzeichen ist die im Volksmund als „Zitronenpresse“ bezeichnete gläserne Kuppel – besticht durch sein putzloses Mauerwerk und ein an bessere Zeiten erinnerndes königliches Relief im Foyer, dem sich eine moderne Kunsthalle aus Glas und Stahl anschließt. Beides – die fragile Architektur des Königreiches und die kühle des heutigen Freistaates – wurde von den tschechischen Kuratoren klug ausgenutzt, bis an die Grenze dessen, was deutsche Sicherheitsinspektoren zulassen.
Krištof Kinteras Lichtinstallation „My Light Is Your Light II“, bestehend aus unzähligen Glühbirnen und anderen Leuchtmitteln, ist ganz gewiß eine Zumutung für jeden deutschen Elektriker. Und Magdaléna Jetelová, so erzählt es die 76jährige selbst, mußte ihre monumentale Arbeit „Resonances“, bestehend aus ursprünglich bis an die Decke reichenden, in den Raum gehängten Spiegelmembranen, kurz vor der Eröffnung zurückbauen. Aber auch so klingt es mächtig gewaltig, beginnen die Membranen zu vibrieren, verändert sich der Raum nicht nur farblich, wenn eine Musikerin auf der Orgel spielt.
Jetelovás Installation hat ihre Inspiration wohl aus dem Werk des unheimlich vielseitigen Zdenek Pešánek (1896–1965), einem Pionier auf dem Gebiet der multimedialen kinetischen Kunst. Von ihm sind in speziellen Vitrinen untergebrachte fragile neonleuchtende Lichtskulpturen zu sehen.
Zuvor fällt das Auge der Besucher aber auf drei Gemälde des abstrakten Malers František Kupka (1871–1957), dem „wahrscheinlich berühmtesten Künstler der klassischen Moderne tschechischer Herkunft“, wie Jiří Fajt sagt. Auch Kupka verließ frühzeitig seine Heimat, diente in der französischen Fremdenlegion, war von 1918 bis 1920 Professor an der Kunstakademie in Prag, ging zurück nach Frankreich, wo er als verbitterter Eigenbrötler starb.
Ebenfalls ausgestellt sind Gemälde von Marie Cermínová (1902–1980), der bedeutendsten Künstlerin der tschechischen Avantgarde und wegweisenden Protagonistin des französischen Nachkriegssurrealismus, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Toyen. Auch um ihre Werke und die in ihnen verborgenen Andeutungen und Geschichten besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in ihre Biographie. So zeugt das Bild „Ein trauriger Tag“ auch von der Verarbeitung des frühen Todes ihres künstlerischen Partners Jindřich Štyrský, mit dem sie Ende der 1920er Jahre in Paris einen eigenen ‘Ismus’ gründete, nämlich den Artifizialismus.
Tomáš Císařovský erzählt in einem Bild die Geschichte der Brüder Čapek, der eine Schriftsteller, der andere Maler, beide Schlüsselfiguren der Kunst- und Kulturszene der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Der Maler nutzte nie Modelle, sondern stets eine Puppe, die Císařovský irgendwann einmal erwerben konnte, und die er „im Sinne des typischen čapekschen Kubismus transformiert“ und auf dem Gemälde „als eine Mutter darstellt, die ihr Kind in den Kampf jagt“ – Karel auf einem Kinderroller fahrend, Josef schlingernd auf einem Dreirad.
Fajt, der auch als Pager Außenbeauftragter der SKD fungiert, hat die Gunst der Stunde und den Ruf Dresdens als internationale Kunststadt genutzt, um das Beste an die Elbe zu holen, was die staatlichen Museen in Prag und Brünn aus jener Zeit zu bieten haben und auch einige private Sammler überzeugt, sich eine Zeitlang von ihren Schätzen zu trennen. Und die Kuratoren um Fajt präsentieren in der großen Halle und in kleinen Kabinetten alles so gekonnt, wie es auch in internationalen Ausstellungen selten geworden ist.
„Alle Macht der Imagination“ – der Titel greift einen seinerzeit bekannten programmatischen Appell der französischen Surrealisten auf, des großen Vorbilds der aufstrebenden böhmischen Kunstszene auf – zeigt Malerei, Zeichnung, Grafik, Skulptur, Installation, Film, Textil- und Glaskunst. Die 250 Werke bilden einen Querschnitt durch 110 Jahre tschechischer Kunst. 20 Künstler präsentieren die klassische Moderne, 31 die Gegenwart. Und sie ist erst ein Auftakt. Denn SKD-Chefin Ackermann hat Blut geleckt. Die Staatlichen Kunstsammlungen würden sich künftig stärker gen Osten orientieren, um Künstlern aus ganz Mittel- und Osteuropa eine Bühne zu bieten. 2024 soll der polnischen Kunst gewidmet sein.
Die Ausstellung „Alle Macht der Imagination!“ ist bis zum 9. Juli in der Kunsthalle im Dresdner Lip-siusbau täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Die Begleitpublikation mit 488 Seiten und 402 farbigen Abbildungen kostet 45 Euro.