© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/23 / 21. April 2023

Dorn im Auge
Christian Dorn

Die Zeitreise im Friedensstadion findet ihre Fortsetzung im Spiel Germania Halberstadts gegen die Gastmannschaft des Fußballclubs BFC Dynamo. Der einstige DDR-Serienmeister aus „Berlin (Ost)“, seinerzeit aus dem „Spielermaterial“ des Stasi-Chefs Erich Mielke bestehend, ist aktueller Meister der Regionalliga Nordost. Dennoch reicht es für ihn am Ende nur zu einem 2:2-Unentschieden. Doch das interessiert mich nur am Rande. Tatsächlich fiebere ich der Begegnung mit der eigenen Geschichte entgegen. Es muß wohl 1988 gewesen sein, als die Klassenfahrt über Berlin führte und ich – als wir individuell durch die Hauptstadt tigern durften – aus dem Schacht einer U-Bahn-Station stieg in unmittelbarer Nähe des Stadions der Weltjugend, wo zu diesem Zeitpunkt das Endspiel des FDGB-Pokals ausgetragen wurde. Ungläubig schaute ich um mich: Die ganze Straße voll von mehreren hundert Skinheads, uniform in Springerstiefeln und Bomberjacken, ein martialischer Auftritt in Marschblockformation. Von der Volkspolizei keine Spur weit und breit. Mein Puls raste, ich hatte panische Angst – wo war ich? Träumte ich? War ich durch wundersame Weise im Westteil Berlins ausgestiegen? Hatte mich jemand nichtsahnend irgendwohin gebeamt? Schließlich kannte ich solche Bilder nur aus dem Westfernsehen oder aus der SED-Propaganda über die „Neonazis in der BRD“.

Plötzlich erschallen Rufe, offenbar aus den Reihen der Alt-Hools, wie „Scheiß BFC“ oder „Stasi raus“.

Jetzt, trotz eines Bieres ganz ernüchtert auf der Tribüne sitzend, erklärt mein Nachbar, Vater eines der Spieler, der aus dem katholischen Eichsfeld kommt, daß er über das Elend in Berlin nur den Kopf schütteln könne, allein schon wegen der jungen Bettler. Ich stimme zu, ein Freund von mir habe genau deshalb schon lange den „Reichshauptslum“ (Don Alphonso) gen Norden verlassen. Dann erklärt mein Sitznachbar, links von uns auf der Tribüne säßen die „Alt-Hools“. Auf der Suche nach meiner Geschichte tigere ich sogleich los – und bin überrascht, treffe ich doch auf ganz geerdete, Ironie-gestählte Figuren, deren launigem Dialog ich lausche, unterbrochen von plötzlichen Rufen – offenbar aus den Reihen der Alt-Hools – wie „Scheiß BFC“ oder „Stasi raus.“ Als der einzige Typ unter ihnen mit Glatze und Bomberjacke seinem Kumpel entgegnet: „Die Jacke trage ich schon immer!“, schalte ich mich ein. Tatsächlich muß er wohl damals auch am Stadion der Weltjugend gewesen sein – allerdings haben sie ganz andere Erinnerungen, so etwa an die dunkelhäutigen Fußballfans des BFC aus den Reihen der DDR-Vertragsarbeiter. Die erwartete Konfrontation in meinem Kopfkino vom unwirklichen Faschismus-„Flash“ in der „Hauptstadt der DDR“, erlebt in der Spätphase des SED-Regimes, löst sich im Nirwana auf.


Tatsächlich aber mustert mich der andere Gesprächspartner und glaubt, ich würde sie in Wirklichkeit aushorchen wollen, da ich keinen Halberstädter Dialekt hätte. Schließlich überstehe ich die Probe und erfahre, daß hier der „Kabinenklatsch“ der JF durchaus zur gelegentlichen Lektüre gehört, nicht zuletzt wegen Hertha BSC, zu dem die BFC-Fans hielten.