© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/23 / 21. April 2023

Laßt die Korken knallen!
Literatur: Marie-Luise Wolff erzählt in ihrem historischen Roman die Lebensgeschichte der Nicole Clicquot-Ponsardin, die das heute noch erfolgreiche Champagnerhaus begründete
Regina Bärthel

Gute Unternehmer spüren wie Seismographen, was sich in den Hirnen ihrer Käufer tut.“ Zu ihnen gehörte Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin:  Sie erahnte nicht nur die Wünsche ihrer Kunden, sondern führte ihr Unternehmen auch mit Risikobereitschaft und Flexibilität, obwohl es immer wieder durch politische Maßnahmen – allen voran Handelsboykotten – in seiner Existenz bedroht wurde. So baute sie ein Champagnerhaus auf, das noch heute zu den größten und traditionsreichsten Unternehmen weltweit gehört. Den Grundstein für diesen Erfolg legte sie erstaunlicherweise vor mehr als 200 Jahren: Madame Clicquot dürfte damit die erste große Unternehmerin Europas sein, vermutet Marie-Luise Wolff und schildert in ihrem Roman „Die Unbeirrbare“ das Leben der ungewöhnlichen Frau.

Als Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers wird Nicole Ponsardin 1777 im französischen Reims, im Herzen der Champagne, geboren. Ihre ersten Erfahrungen mit Maßnahmen einer Regierung macht sie während der Französischen Revolution: Nicoles Vater – ein überzeugter Royalist mit engen Kontakten zum Adel – fürchtet die Säuberungsmaßnahmen der Jakobiner und versteckt seine Tochter bei der Schneiderin des Hauses. Das Mädchen fühlt sich wohl in diesem handwerklichen Umfeld, kann sie doch mit ihren Rechenkünsten etwas dazu beitragen.

Bald läßt Vater Ponsardin die Familie in den heimischen Palast zurückkehren: Zugunsten seines Unternehmens, mit tausend Mitarbeitern von stattlicher Größe, hat er sich auf die Seite der Gewinner geschlagen und ist den Jakobinern beigetreten. Was ihn nicht davon abhält, nur wenige Jahre später Napoleon Bonaparte als Helden Frankreichs zu verehren. Dank seiner Anpassungsfähigkeit – er ist ein „Meister der fluktuierenden Diplomatie“ – kann Ponsardin nicht nur den Erfolg seines Unternehmens bewahren, sondern erhält auch zunehmend politische Macht.

Napoleons Handelsboykott schadet vor allem den Franzosen

Seine Tochter hat inzwischen François Clicquot geheiratet. Gemeinsam beginnt das junge Paar, den Weinhandel der Clicquots auf die Produktion von Champagner umzustellen; nach den Jahren des Terrors durch die Revolution sind sie voller Hoffnung auf eine neue Freizügigkeit der Franzosen und die Champagnerlaune der neuen Nation unter ihrem Ersten Konsul Napoleon. Fortan ist das Leben der Nicole Clicquot sowie der Erfolg ihres Unternehmens eng mit dem Machtstreben des späteren Kaisers verknüpft, dem sie allerdings von Beginn an kritisch gegenübersteht. Konsequent vermeidet sie eine Kontaktaufnahme, obgleich sie die engen Beziehungen ihres Vaters hätte nutzen können.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes führt Nicole mit 27 Jahren das Unternehmen allein weiter. Bewußt entscheidet sie sich für den Witwenstand, denn im Gegensatz zu allen anderen Frauen, die stets unter Vormundschaft der Väter oder Ehemänner stehen, haben Witwen größere Rechte zur Selbstbestimmung. Tatsächlich hatte es in den Anfängen der Französischen Revolution starke Bestrebungen zur Gleichberechtigung der Frau gegeben; die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von Olympe de Gouges kannte zu jener Zeit jeder, der des Lesens mächtig war. „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen“, verkündet die frühe Streiterin für weibliche Emanzipation. „Ihr muß gleichermaßen das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen.“ De Gouge werden beide Rechte zuteil; die immer fanatischer agierenden Jakobiner köpfen sie 1793. Für Witwen jedoch bleibt das Recht auf Besitz und Berufstätigkeit erhalten; ein Umstand, der insbesondere in Handwerksbetrieben sowie im Weinbau verbreitet ist und auch während des Kaiserreiches bestehen bleibt.

Unter dem neuen Firmennamen „Veuve (Witwe) Clicquot“ und mit Hilfe ihres Handelsvertreters und Beraters Louis Bohne, einem Weinhändlersohn aus Mannheim, sucht Nicole fortan Wege, ihr prickelndes Getränk an eine internationale Kundschaft zu liefern. Genau hier aber liegt für sie wie auch für alle anderen Fabrikanten das Problem: In seinem Expansionsstreben hat Napoleon bekanntlich ganz Europa mit Kriegen überzogen, was weder die Lust auf französische Produkte noch die Liquidität, diese zu bezahlen, fördert: Besiegte kaufen keinen Champagner. Insbesondere die Kontinentalsperre, ein umfassender Handelsboykott, durch den Napoleon die Briten „austrocknen“ will, schadet vor allem den Franzosen. Während England die Sanktionen durch verstärkten Handel mit seinen Kolonien umschifft, verliert das Unternehmen Clicquot die Hälfte einer Jahresproduktion des aufwendig hergestellten und leicht verderblichen Schaumweins aufgrund versperrter Handelswege. Erneut steht „Veuve Clicquot“ kurz vor dem Ruin – und das nicht zum letzten Mal.

Unternehmerischer Erfolg ist stets eng mit den Handlungen der politischen Kräfte verwoben. Diesen Umstand macht Autorin Wolff deutlich, indem sie in umfangreichen Passagen des Romans die Biographie Napoleons sowie seine zahlreichen Feldzüge und politischen Verstrickungen nachzeichnet. So verzahnt sie das private und unternehmerische Leben der Nicole Clicquot mit dem Napoleons. Das ermöglicht durchaus Vergleiche zwischen den beiden historischen Figuren: In Sachen Führungskompetenz und vorausschauendem Handeln nicht zuletzt zum Wohle der Untergebenen wie auch der Familie scheint die Unternehmerin dem Staatsmann weit überlegen. Letzten Endes ist es der Niedergang des Kaisers, angestoßen spätestens durch dessen verheerenden Rußlandfeldzug, der zum Motor des Wiedererstarkens der Unternehmerin wird: Durch die Berichte ihrer Handelspartner weiß sie früh von den tatsächlichen Vorgängen in Rußland und umgeht 1815  mit hoher Risikobereitschaft das Importverbot für französische Waren. Sie verschifft mehrere tausend Flaschen „Veuve Clicquot“ nach St. Petersburg und legt damit den Samen für die Blüte ihres Unternehmens. 

„Natürlich präsentiere ich hier meine eigene Version der Geschichte einer faszinierenden Frau und schaue auf sie aus dem Blickwinkel meiner eigenen Erfahrungen als Unternehmerin“, erklärt Wolff ihre Vorgehensweise für den Roman. Und ihre Erfahrungen sind umfangreich, ist Marie-Luise Wolff doch Vorstandsvorsitzende des Energiekonzerns Entega, Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft sowie Mitglied der Expertenkommission für die sogenannte Gaspreisbremse. In ihrem Buch „Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung“ forderte sie 2020 ein Ende der Anbetung digitaler Trugbilder zugunsten einer Neuentdeckung der Werte schaffenden Realwirtschaft und einer sinngebenden Ökonomie.

Während die Literatur zu Napoleon selbstredend umfangreich ist, existieren über die historische Madame Clicquot nur kleinere Schriften. Erhalten aber ist ihr Briefwechsel mit der Familie und Handelspartnern, der im zum Museum umgestalteten Wohnhaus der Clicquots in Reims aufbewahrt ist. Raum genug also für schriftstellerische Freiheiten. Wolffs Debütroman vermittelt auf lesenswerte Weise die wenig bekannte Vita der ersten maßgeblichen Unternehmerin Europas mit den Vorgängen der Französischen Revolution sowie dem Aufstieg und Fall Kaiser Napoleons. „Die Unbeirrbare“ stellt dabei das Beachtens- und möglicherweise Nachahmenswerte der Unternehmerin Clicquot in den Mittelpunkt, läßt den Roman jedoch dankenswerterweise nicht zu einer feministischen Eloge werden. (Übrigens verzeichnet der Deutsche Startup Monitor für 2022 lediglich einen Anteil von 20 Prozent für Gründerinnen von Unternehmen; eine eher geringe Zahl, bedenkt man die heute ausgesprochen positiven Voraussetzungen.) 

Marie-Luise Wolff ist mit „Die Unbeirrbare“ ein historischer Roman gelungen, der einen wichtigen Teil der europäischen Geschichte um eine interessante weibliche Perspektive ergänzt. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der sich verändernden politischen Systeme auf das Unternehmertum und dessen Handlungsspielräume klug geschildert: Man kann und sollte aus Geschichte lernen. Santé!

Marie-Luise Wolff: Die Unbeirrbare. Das abenteuerliche Leben der Mme Clicquot. Roman, Edition W GmbH, Frankfurt/Main 2022, gebunden, 350 Seiten, 22 Euro