© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/23 / 21. April 2023

Die Wogen glätten
USA: Die Pentagon Leaks erschüttern das Land und offenbaren Probleme bei den US-Geheimdiensten
Marc Zoellner

Der Schreck muß den Dufaults bis in die Knochen gefahren sein, als vergangenen Donnerstag der Zugriff erfolgte: Aus mehreren gepanzerten Fahrzeugen stürmten plötzlich Dutzende schwer bewaffnete FBI-Agenten den Rasen des kleinen Hauses der Familie in der beschaulichen Achttausend-Seelen-Gemeinde Dighton im US-Bundesstaat Massachusetts. Am Himmel dröhnten die Rotoren der Helikopter lokaler TV-Sender. Und auch auf der Straße hatten sich bereits Schaulustige sowie Pressevertreter eingefunden, um den Agenteneinsatz live zu verfolgen. Doch dieser galt weder dem Hausbesitzer Thomas Dufault, einem ehemaligen Hauptfeldwebel der Massachusetts Air National Guard, der nach 34 Dienstjahren schon 2019 in den Ruhestand trat. Ebensowenig seiner Frau Dawn, einer ehemaligen Mitarbeiterin ehrenamtlicher Veteranenorganisationen, die seit 2017 einen Blumenladen im Ort führt.

Verhaftet wurde am Ende der Sohn der Mutter aus erster Ehe, Jack Douglas Teixeira; ein gerade einmal 21jähriger passionierter Onlinecomputerspieler mit geradezu kindlich wirkendem Gesicht, dem nach der am Freitag erhobenen Anklage durch die Staatsanwaltschaft nun mehrere Jahrzehnte Gefängnis drohen. Teixeira wird der wohl schwerste Geheimnisverrat in den USA seit gut zehn Jahren vorgeworfen. 

Dabei hatte er erst im Sommer 2021 seine schulische Ausbildung abgeschlossen und trat im Herbst vergangenen Jahres in den Militärdienst ein. Wie ein frischer Rekrut an streng geheime Dokumente der Armee und der Geheimdienste herankommen konnte, darüber rätseln nun selbst höchste Regierungskreise der Vereinigten Staaten.

Tatsächlich sind die mutmaßlich von Teixeira geleakten Dokumente von höchster Brisanz. Inhaltlich beschäftigt sich ein Großteil der Unterlagen mit dem Ukrainekrieg. Bewertet wird in ihnen unter anderem die Schlagkraft der ukrainischen Armee, welcher in einem der Schreiben vom 1. März attestiert wurde, „erschöpft“ zu sein. Ebenso erfolgten Einschätzungen über die Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Luftabwehr, über die Menge bereits gelieferter Kriegsgeräte – sowie über noch folgende Lieferungen mitsamt Zeit- und Ortsangaben. Auch zur geplanten Frühlingsoffensive sollen die Dokumente berichtet haben. Den Angaben des US-Nachrichtensenders CNN zufolge sah sich die Ukraine bereits Anfang März genötigt, aufgrund der Leaks ihre operativen Einsätze umzuplanen. Doch auch Dokumente des US-Geheimdienstes CIA sollen sich unter dem Material befunden haben, welche über das Ausspähen eines Treffens der Regierungschefs der Ukraine und Südkoreas seitens der CIA sowie über die zwischenstaatlichen Beziehungen der westlichen Unterstützer der Ukraine zu mehreren arabischen Staaten berichteten. Überdies gaben die geleakten Informationen Einblick in die geschätzten Verluste an der Front: Auf ukrainischer Seite wurden zwischen 16.000 und 17.500 Tote geschätzt, auf russischer Seite bis zu 43.000 Tote.

Die Echtheit der Dokumente wurde von Beginn an von staatlichen Stellen der USA nicht angezweifelt. Die Spurensuche nach dem Verantwortlichen kam hingegen einer Schnitzeljagd quer durch das Internet gleich. Aric Toler, langjähriger Mitarbeiter des internationalen Recherchenetzwerkes Bellingcat sowie freiberuflicher Journalist der New York Times, war an dieser beteiligt.

In seiner Stammzeitung berichtet er von seiner Suche in einem Netzwerk aus Chatservern für Onlinespiele, deren oftmals noch minderjährige Mitglieder bei seiner Kontaktaufnahme „geradezu panisch klangen“. Teixeira hatte die über hundert seit März im Internet aufgetauchten Dokumente  mit nach Hause genommen, dort abfotografiert und auf eine Spieleplattform eingestellt. Der akribische Vergleich von Hintergründen dieser Bilder – von Baseballmützen bis hin zu markanten Küchenarbeitsplätzen – führte Tolers Team schließlich auf die richtige Spur und offenbarte ihnen Teixeiras ursprüngliches Nutzerkonto auf der Spieleplattform „Steam“. Als Toler nach Massachusetts fuhr, um Teixeira zu interviewen, griff im gleichen Moment bereits das FBI zu.

Die konkurrierende Washington Post nutzte den Vorfall sogleich als Steilvorlage zur Behauptung, das FBI wäre erst auf die Spur des Täters gekommen, „nachdem die New York Times am Donnerstag mit der Benennung von Teixeira nachgekommen war“. Die NYT streitet Hinweise an die Ermittler jedoch vehement ab. Unbestreitbar bleibt hingegen das eklatante Versagen von Regierung, Geheimdiensten und Militär der USA hinsichtlich der Sicherheitsmaßnahmen für Zugriffe ihrer Angestellten auf vertrauliche oder gar geheime Dokumente. 

Einzig Rußland zeigt sich von den Veröffentlichungen unbeeindruckt

Im Vorfeld eines Treffens zwischen US-Präsident Joe Biden und seinem südkoreanischen Amtskollegen Yoon Suk-yeol versuchen US-Diplomaten die Wogen zu glätten. Doch letzterer steht innenpolitisch bereits in der Schußlinie. „Als souveräne Nation müssen wir streng auf das Ausspionieren von Staatsgeheimnissen reagieren, selbst wenn es von einem Verbündeten begangen wurde, mit dem Südkorea eine Blutsbrüderschaft eingegangen ist“, forderte unlängst Park Hong-keun, Oppositionsführer der Demokratischen Partei Südkoreas.

Auch Kiew äußerte sich irritiert über die wenig positive Einschätzung der USA zur moralischen Verfassung der ukrainischen Armee. Einzig Rußland zeigt sich unbeeindruckt über die Leaks. „Das sollte eher die amerikanischen Spezialdienste beschäftigen“, äußerte der russische Präsidentensprecher Dmitri Peskow auf die Frage der Nachrichtenagentur TASS, ob auch Rußland juristisch gegen Teixeira vorgehen wolle. „Unsere Aufgabe besteht darin, diese Daten zu analysieren, ihre Authentizität erneut zu hinterfragen und gründlich zu prüfen.“ Was die US-Behörden bei der Aufarbeitung des Datenskandals einzig beruhigen dürfte, ist hingegen das ausgemachte Motiv Teixeiras zum Leak: Entgegen ursprünglichen Vermutungen handelt es sich bei dem jungen Rekruten weder um einen professionellen Whistleblower noch um einen Doppelagenten. Der 21jährige wollte bei seinen anonymen Onlinefreunden vielmehr nur mit seinem Zugriff prahlen und sie für seine Sicht zu einem Krieg sensibilisieren zwischen „zwei Ländenr, die mehr gemeinsam haben sollten, als sie voneinander trennt“, wie Teixeira in einem seiner letzten Chats schrieb.