© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/23 / 21. April 2023

„Hitler neu erfunden“
Interview: Vierzig Jahre ist die Affäre um die falschen Hitler-Tagebücher her. Doch wer glaubt, darüber längst alles zu wissen, kennt Heike B. Görtemaker nicht: Die Historikerin hat mit ihren Kollegen eine bisher unbekannte Dimension des Falls entdeckt und nun erstmals die gefälschten Texte publiziert
Moritz Schwarz

Frau Dr. Görtemaker, ist über die 40 Jahre alten „Hitler-Tagebücher“ des „Stern“ nicht längst alles bekannt? 

Heike B. Görtemaker: Ganz und gar nicht, denn erstaunlicherweise hat sich offenbar nie jemand dafür interessiert, was eigentlich in den Tagebüchern steht. 

Und weshalb haben Sie und der Politologe Hajo Funke den Inhalt nun untersucht?

Görtemaker: Weil der Publizist John Goetz im Auftrag des NDR auf uns zukam und um eine wissenschaftliche Bewertung der Texte bat. Denn obwohl die Originale unter Verschluß sind, ist der NDR in den Besitz einer Kopie gelangt. Das Ergebnis unserer Arbeit haben wir in dem nun erschienenen Band „Die echten falschen ‘Hitler-Tagebücher’. Kritische Dokumentation eines geschichtsrevisionistischen Rehabilitierungsversuchs“ zusammengefaßt. 

Geschichtsrevisionismus? Bis dato galten die im April 1983 vorgestellten Tagebücher als politisch inhaltslose Alltagsprosa über Verdauungsprobleme und Flatulenzen, Stichwort: „Und Eva sagt, ich habe Mundgeruch.“ 

Görtemaker: Eben weil niemand genauer hingeschaut und man sich mehr damit beschäftigt hat, wie die Täuschung vor sich ging, statt was genau eigentlich vorgetäuscht wurde.

Und das ist?

Görtemaker: Das unpolitische Schelmenstück, als das uns die Affäre bisher vorgestellt wurde, ist nicht länger zu halten. Denn tatsächlich hat Konrad Kujau, der inzwischen verstorbene Fälscher, in den Tagebüchern einen neuen Hitler erfunden – und zwar einen, der mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun hatte und sich gegenüber fanatischen Parteigenossen nicht durchsetzen konnte. 

Inwiefern? 

Görtemaker: Zum Beispiel bringt der fiktive Hitler in den „Tagebüchern“ mehrfach seine Sorge zum Ausdruck, daß für „die Juden“ ein Ort gefunden werden müsse, an dem sie sicher untergebracht werden könnten, während er sich beinahe hilflos wünscht, Himmler möge diesbezüglich doch ein Einsehen haben. Auch bekümmert ihn immer wieder, was wohl das Ausland angesichts von Himmlers antisemitischer Gewalt über Deutschland denken möge. So ersteht in den Tagebüchern das Bild einer fürsorglichen Vaterfigur, die kaum etwas von Verbrechen weiß, wenn nicht sogar einer Heldenfigur, die versucht, sie zu verhindern. Dieser Hitler ist geradezu friedliebend. Ja, im Grunde ist es ein Hitler, der in Opposition zur nationalsozialistischen Elite steht, deren Aggressivität und Radikalität er sich kaum erwehren kann! Unterstützt wird diese Irreführung dadurch, daß Schlüsselbegriffe wie Lebensraum, Sterilisierung, Deportation, KZ, Auschwitz oder Endlösung nicht vorkommen.

Laut NDR „leugnen (die Tagebücher) an etlichen Stellen den Holocaust“. Wie ist das möglich, wenn von diesem gar nicht die Rede ist?

Görtemaker: Der Holocaust findet keine Erwähnung, darin besteht die Leugnung. Jedoch hätte ihn wohl auch ein echtes Tagebuch nicht erwähnt.

Warum nicht?

Görtemaker: Einen schriftlichen Beweis dafür wollte man nicht hinterlassen. So hat es ja bekanntlich auch keinen schriftlichen Befehl für den Holocaust gegeben. Obwohl Hitler bei etlichen Gelegenheiten keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen hat.

Dann ist die Fälschung in dieser Hinsicht sogar korrekt?

Görtemaker: Ja, nur offensichtlich nicht aus dem Grund, genau sein zu wollen, sondern um Hitler zu entlasten. 

Was ist mit den zum Teil bereits bekannten, unpolitischen, weil persönlichen Textpassagen: Haben sie, so das bisherige Verständnis, den Charakter belangloser Episoden, die nur dazu dienen, die Seiten zu füllen oder versuchen auch sie, den Leser für Hitler einzunehmen?

Görtemaker: Tatsächlich stand Kujau damals enorm unter Zeitdruck. Denn er hatte dem Stern weitere Bände der Tagebücher versprochen, für deren „Auffinden“ ihm zwei Millionen D-Mark geboten worden waren. Daher mußte er nun relativ schnell die Seiten füllen, was er durch eine Kurz­aufzählung von historischen Ereignissen erreichte, in die er persönliche Passagen einfügte, um dem Text den Charakter eines Tagebuches zu geben. Auf der anderen Seite aber dienten diese privaten Passagen daneben ebenfalls dem Zweck, Hitler zu verharmlosen. Denn das ganze Werk durchzieht eine bereinigte Sprache, in der nichts mehr zu finden ist von Hitlers völkisch-antisemitischer und rassistischer Weltanschauung und seiner brutalen Ausdrucksweise, der er sich, wie wir aus den Quellen wissen, sonst eigentlich bediente. 

Wie sieht es mit den historischen Fakten aus, finden sich auch hier Verfälschungen?

Görtemaker: Nein, diesbezüglich hat Kujau recht exakt gearbeitet. Zwar machte er später keine genauen Angaben zu den Quellen seiner Fälschung, nannte aber die Nationalsozialistischen Jahrbücher – eine Art Kalender, die die NS-Feiertage verzeichneten und Zitate führender Nationalsozialisten wiedergaben – sowie das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht. Doch griff er offenbar weiterhin auf die kommentierte Sammlung von Hitlers Reden und Proklamationen zurück, die der Historiker Max Domarus in den sechziger Jahren herausgab. Zudem wird Kujau auch eine Chronologie wichtiger weltpolitischer Ereignisse, wie zum Beispiel „Keesings Archiv der Gegenwart“, benutzt haben. 

Diese Grundlage authentischer Fakten diente ihm also dazu, seinem Hitler Glaubwürdigkeit zu verleihen?

Görtemaker: Ja, allerdings findet sich in den Tagebüchern neben Kujaus Erfindung eines friedliebenden Hitlers noch ein weiterer, nämlich der einsame Hitler, wie ihn bereits die NS-Propaganda kreiert hatte. Als ein Mann aus dem Volk, ohne Privatleben, der einzig und allein für seine politische Mission lebt: den Aufbau eines neuen deutschen Reiches. 

2019 haben Sie die „bahnbrechende Studie“, so das ZDF, „Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach“ veröffentlicht. Wie verhielt es sich also tatsächlich mit Hitlers Privatleben?

Görtemaker: In Wahrheit war Hitler seit 1920 ständig von politischen Mitstreitern und Freunden umgeben. Vor allem der Schriftsteller Dietrich Eckart und der Offizier Ernst Röhm vermittelten dem völlig unbedeutenden Hitler Kontakte in bürgerliche Kreise und in die bayerische Reichswehr. Nach dem gescheiterten Hitlerputsch vom November 1923 bildeten der Klavierfabrikant Edwin Bechstein und seine Frau Helene, das Verlegerehepaar Hugo und Elsa Bruckmann sowie Siegfried Wagner, der Sohn des Komponisten Richard Wagner, und seine Ehefrau Winifred einen einflußreichen Kreis von Mäzenen, der bereit war, Hitler in seinem Kampf gegen die Weimarer Demokratie zu unterstützen. Die Frauen spielten hier eine wichtige Rolle. Sie vermittelten ihm Kontakte in bürgerlich-konservative Schichten, finanzierten ihm Autos und Reisen, begleiteten und berieten ihn. Um Hitler herum entwickelte sich eine Ersatzfamilie, zu der auch der Fotograf Heinrich Hoffmann und der Verlegersohn Ernst Hanfstaengl mit ihren Familien gehörten. Politisches und privates Leben waren untrennbar miteinander verbunden. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 und seinem Aufstieg zum Alleinherrscher umgab er sich vorwiegend mit Anhängern, denen nicht er etwas schuldete, sondern die ihm ihre Karriere verdankten – wie zum Beispiel der Architekt Albert Speer und der Begleitarzt Karl Brandt – und die deshalb in einer besonderen Loyalitätsbeziehung zu ihm standen. Brandt und Speer waren an der Entrechtung, Verfolgung und Tötung von Menschen beteiligt. In Kujaus gefälschten Tagebüchern spielt dieser Kreis um Hitler keine Rolle. Kujau übernimmt damit das vor 1945 von der NS-Propaganda verbreitete Bild vom einsamen „Führer“ – eine Legende, die nach Kriegsende in den Memoiren früherer NS-Größen fortgeschrieben wurde. Fast alle früheren Mitarbeiter und Freunde Hitlers distanzierten sich nun von ihrem „Führer“ und dem Nationalsozialismus und leugneten, von den Massenverbrechen des NS-Regimes gewußt zu haben. 

Warum hat Kujau das alles so dargestellt?

Görtemaker: Weshalb Kujau in seiner Fälschung Hitler als einsamen Herrscher darstellte, der an den nationalsozialistischen Verbrechen nicht beteiligt gewesen war, ist eine Frage, die noch zu beantworten ist. Unklar ist auch, ob Kujau die Bände wirklich alleine geschrieben hat, wie er später behauptete. Tatsächlich bewegten sich Kujau, und auch der Stern-Journalist Gerd Heidemann, der ihm die Tagebücher abkaufte, damals im Umfeld ehemaliger Nationalsozialisten, Mitgliedern von Hitlers „inner circle“, und Neonazis. Zu klären wäre daher auch, wie stark dieses Umfeld Einfluß auf den Inhalt der Tagebücher genommen hat.

Wollte Kujau mit seinem Hitler tatsächlich in die Geschichtsschreibung eingreifen und diesen reinwaschen oder hat er ohne eigene politische Ambition seinen Kunden lediglich „nach dem Munde“ geschrieben, um mehr abkassieren zu können?

Görtemaker: Auch das ist noch eine offene Frage. In der Tat lebte Kujau lange ein relativ unauffälliges, erfolgloses Leben und scheiterte mit dem Versuch, sein Geld mit einem Campingplatz zu verdienen. Erst Anfang der siebziger Jahre, mit der aufkommenden „Hitlerwelle“ – als es plötzlich ein großes öffentliches Interesse an Hitler gab und sein Porträt auf den Titelseiten nationaler und internationaler Zeitschriften zu sehen war – entdeckte Kujau offenbar eine Marktlücke: Er begann echte und gefälschte NS-Devotionalien zu verkaufen, an private Sammler, aber auch an namhafte Historiker, wie etwa Eberhard Jäckel. Hitler war für ihn ein Geschäftsmodell. Andererseits aber war Kujau, dessen Vater übrigens Parteimitglied gewesen ist, immer schon am Nationalsozialismus interessiert.      

Interesse ist allerdings noch keine Zustimmung.

Görtemaker: Bei Kujau kann man wohl schon von einer Faszination, ja Bewunderung für den Nationalsozialismus sprechen. 

Die sich worin äußerte?

Görtemaker: Eben zum Beispiel darin, wie er Hitler in den Tagebüchern zum Helden gemacht hat. In einem späteren Interview erklärte er selbst, daß er sich immer mehr mit ihm identifiziert habe. 

Was allerdings wohl unvermeidlich ist, wenn man sich monatelang hauptberuflich in jemanden hineindenkt.

Görtemaker: Inwieweit Kujau nur von Geschäftssinn oder auch von einer Hitler-Begeisterung getragen war, wird erst deutlicher werden, wenn man sein damaliges Umfeld aus Hitler-Verehrern, alten Nazis und Neonazis ausleuchtet und sich mit Kujaus Rolle darin beschäftigt. 

Sie äußern auch die Vermutung, möglicherweise wollte Kujau schließlich sogar auffliegen. Wieso das?

Görtemaker: Tatsächlich finden sich in den „Tagebüchern“ Passagen, die wie eine Überzeichnung anmuten. Zum Beispiel erklärt Kujaus Hitler an einer Stelle, Himmler müsse auch daran denken, „daß diese Juden noch in der Welt Verwandte haben“, die sich wundern würden, wenn „ihre Verwandten plötzlich verschwunden sind“. Hier stellt sich schon die Frage, ob Kujau möglicherweise hoffte, mit solchen Sätzen eine schnelle Entlarvung der Tagebücher als Fälschung zu ermöglichen. 

Wozu? 

Görtemaker: Möglicherweise, um seine Enttarnung zu verhindern. Denn wäre man ihm beim Stern rechtzeitig auf die Schliche gekommen, hätte man diese peinliche Affäre sicherlich nicht öffentlich gemacht, sondern sich wohl damit abgefunden, einige Millionen Mark verloren zu haben und die Sache still und leise beerdigt, ohne Kujau weiter zu behelligen. 

Bis heute hält der „Stern“ die Tagebücher unter Verschluß. Zu Recht?

Görtemaker: Ich meine, nein. Doch offenbar dachte man, dadurch den Schaden begrenzen zu können. Tatsächlich aber holt die Sache den Verlag nun wieder ein, der die Tagebücher nach dem Auffliegen des Betrugs sofort hätte öffentlich machen und an ein Archiv oder eine Forschungseinrichtung übergeben müssen. Allerdings scheint sich jetzt, wohl auch durch unsere Edition der „Tagebücher“, etwas zu bewegen. Vermutlich werden die Originale früher oder später dem Institut für Zeitgeschichte in München zur Auswertung zur Verfügung gestellt, da es sich nun in einem Forschungsprojekt eingehend mit dem Inhalt der „Tagebücher“ beschäftigen wird.  

Betrachten Sie die bisherige populäre Darstellung der Affäre als Komödie – im Kinofilm „Schtonk!“, der deutschen Fernsehserie „Faking Hitler“ und dem britischen TV-Mehrteiler „Hitler zu verkaufen“ – angesichts der neuen Erkenntnisse als unangemessen?

Görtemaker: Nein, man kann die Geschehnisse selbstverständlich auch auf diese Weise verarbeiten. Allerdings findet dort eine Beschäftigung mit dem Inhalt der Tagebücher nicht statt, für den sich bisher offenbar kaum jemand interessiert hat. Der Klamauk verstellt den Blick darauf, daß hier versucht wurde, Hitler von den NS-Verbrechen freizusprechen. 






Dr. Heike B. Görtemaker, die Historikerin, geboren 1964 in Bensheim, erregte mit den Bänden „Eva Braun. Leben mit Hitler“ (2010) und „Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im 3. Reich“ (2019) Aufmerksamkeit. Neu erschienen: „Die echten falschen ‘Hitler-Tagebücher’. Kritische Dokumentation eines geschichtsrevisionistischen Rehabilitierungsversuchs “