Kollektiv. In seinem zehnbändigen kollektiven Tagebuch „Echolot“ macht Walter Kempowski ein Kompositionsprinzip des modernen Romans, die „vielfältige Bewußtseinsspiegelung“ (Erich Auerbach), zeithistorisch fruchtbar. Ausgewählt aus Millionen Blättern seines „Archivs für unpublizierte Autobiographien“, zusammengefügt zur kosmischen Textcollage, versucht das „Echolot“ die Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges durch einen vielstimmigen Chor von Zeitzeugen komplexitätssteigernd und bewußtseinserweiternd zu vergegenwärtigen. Zahlreiche Sachbuchautoren haben inzwischen Kempowskis Collage-Methode nachgeahmt und trivialisiert, am erfolgreichsten wohl der Zeit-Mitherausgeber Florian Illies, zuletzt mit seiner von 1929 bis 1939 reichenden, maximal kitschigen „Chronik eines Gefühls“ („Liebe in Zeiten des Hasses“, 2021). Es grenzt daher schon an Lesertäuschung, wenn die Verlagswerbung vor diesem Hintergrund behauptet, die „Deutsche Geschichte 1918–1945“ des Berliner Historikers Michael Wildt habe, „wie bislang kein anderes Werk Geschichte in eine kollektive Erzählung überführt“. Tatsächlich stützt Wildt sich für die zwölf Kapitel seines Buches nur auf wenige unveröffentlichte Quellen wie die Tagebücher der Hamburger Lehrerin Luise Solmitz. Stattdessen ist der im „Kampf gegen Rechts“ engagierte Wildt bemüht, die Standardliteratur zur Weimarer Republik und zur NS-Diktatur zu referieren, um „im Netz des bereits Gesagten“ (Michel Foucault) aus der Vergangenheit systemstabilisierende Verhaltensnormen für die bundesdeutsche Gegenwart abzuleiten. (wm)
Michael Wildt: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918–1945, Verlag C. H. Beck, München 2022,gebunden, 638 Seiten, 32 Euro
Krisengewinnler. Nach zwei panischen Jahren Corona-Pandemie resümiert die US-Journalistin Naomi Wolf die Irrheiten von Restriktionen, die unser gesellschaftliches Leben zum Teil stark beeinträchtigten. Natürlich läßt sie auch die kleinen und großen Gewinner nicht aus, die von dieser Krise profitieren konnten, sei es die Aktie von Zoom, die im Herbst 2020 einen Höchstwert erklomm, oder der Berliner Essenslieferant Hello Fresh, die Homeoffice und Lockdown für sich nutzen konnten. Vielmehr aber nimmt Wolf jene Gesellschaftsklempner und oligarchischen Eliten ins Visier, die in den Einschränkungen bürgerlicher Freiheit und staatlichen Ermächtigungen die Chance witterten, durch die kalte Küche ihre Visionen eines Great Reset zu befördern. Dafür, daß einige Akteure das Krisenszenario nicht nur frech ausnutzten, sondern sogar direkt zu steuern vermochten, wie Wolf behauptet, bleibt sie gerichtsfeste Nachweise allerdings schuldig. (bä)
Naomi Wolf: Im Grunde böse. Covid-19, die neuen Machteliten und ihr Krieg gegen die Menschlichkeit. Kopp Verlag, Rottenburg 2022, gebunden, 382 Seiten, 22,99 Euro