© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Freiheit stärkt die Gemeinschaft
Gerd Habermann analysiert den beträchtlichen Anteil freiheitlicher Kultur in der deutschen Geschichte
Lothar W. Pawliczak

Der Wirtschaftsphilosoph Gerd Habermann setzt den miesepetrigen deutschen Beckmessern, die Deutschland und die Deutschen unermüdlich historischer Fehltritte und Verbrechen anklagen, die bei Dichtern und Denkern akribisch nach Verfehlungen fahnden, um sie mit unhistorischen Verdammungsurteilen zu überziehen, meist um sich selbst zugleich in einem Gefühl moralischer Überlegenheit zu suhlen, eine andere Geschichtslinie der Deutschen entgegen: die Kultur der Freiheit und Vielfalt. An freiheitliche, oft weitgehend vergessene freie Institutionen wird erinnert, die reichhaltige Freiheitsliteratur wird neu entdeckt. Gerd Habermann beruft sich ausdrücklich auf Herfried Münkler: Jede Nation bedarf zu ihrem Selbstverständnis einer „großen Erzählung“, bedarf der Symbole und Mythen, um ihren Zusammenhalt und ihr Überleben zu sichern. Wir müssen mit der Schande leben, in Deutschlands dunkelsten Zeiten von den Grundsätzen der Freiheit abgefallen und brutaler Machtpolitik verfallen zu sein. Wer darob aber die Besinnung auf die großen Traditionen verwirft, gibt die Kulturleistungen der Deutschen auf.

In Zeiten, in denen die Freiheit daran gemessen wird, welches Geschlecht man wählen könne, ist es wohl bitter nötig, daran zu erinnern, was der Begriff der Freiheit ist: „Der Gegensatz zum freien Menschen ist der Sklave. Ein unfreier Mensch ist dem Willen eines anderen unterworfen, er lebt nicht für seine eigenen Ziele, sondern für die eines anderen.“ Dies und nicht etwa eine Freiheit gegen die Natur ist die Freiheit Typ I, „die direkte, unmittelbare und konkrete Souveränität des Menschen über sich selbst“. Sie ist aber immer in die Gemeinschaft eingebettet und kann nicht ohne ein Minimum von Zwang in Gestalt von Sitten, Gebräuchen, Moral, Gesetzen auskommen: Man enthält sich willkürlicher Gewalt, Raub, Vertragsbruch, Betrug, Verleumdung. Das schließt einen kollektiven Freiheitsbegriff (Freiheit Typ II) ein, nämlich die gleichberechtigte politische Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten und die damit verbundene kollektive Selbstbestimmung (Freiheit Typ III): Freiheit von Fremdherrschaft.

Entwicklung zu mehr politischem Interventionismus und Dirigismus

Von der Vorgeschichte der Deutschen, also von den Germanen, wissen wir nichts unmittelbar, denn sie haben nichts Schriftliches hinterlassen. Aber was Caesar, Tacitus und andere über sie schrieben, paßt zu der Erzählung, die uns gut tut: „Die Freiheit ganz am Anfang“. Die später dann in deutschen Landen so oft geschmähte Kleinstaaterei ist wohl neu zu bewerten: „Bis ins 18. Jahrhundert war das Volk offenbar nicht ganz unzufrieden mit dieser politischen Zersplitterung.“ Deutschland war ein „Märchenland des Partikularismus“. Der Deutsche Bund brauchte kein Staatsoberhaupt und selbst im Bismarck-Reich gab es beachtliche „Reservatrechte“.

In der deutschen Geschichte gab es überall Gassen und Intermundien der Freiheit. Im Kaiserreich seit Karl dem Großen war die Herrschaft nach innen durchlöchert wie an den Rändern des Reiches verdünnt. Die Möglichkeit auszuwandern oder in eine Stadt zu fliehen – „Stadtluft macht frei!“ – bewegte die Grundherren nicht selten zu Zugeständnissen, und so manche althergebrachte Gewohnheit schränkte die Handlungsmöglichkeiten der Herrscher ein. Freilich: Wenn sich Bürger oder Bauern zu Freiheitsbewegungen zusammentaten, wurde das immer wieder blutig niedergeschlagen. Nur eine einzige selbst geschaffene freiheitliche Ordnung hat bis in die Gegenwart bestand: eine Verschwörung freiheitsliebender Bauern und Bürger – die Schweizer Eidgenossenschaft.

Aufklärung und Liberalismus, von manchem Konservativen heutzutage leider verkannt und geschmäht, entwickelten im 18. Jahrhundert die klassische Freiheitslehre. Der Rezeption von Adam Smith in Deutschland ist ein spezielles Kapitel gewidmet. Die großen deutschen Reformer Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Karl August Fürst von Hardenberg hatten in Göttingen Adam Smith und andere Liberale studiert und ihn durchaus verstanden: Man konnte sich nicht von der napoleonischen Fremdherrschaft befreien (Freiheit Typ III), ohne den Landeskindern mehr Freiheitsräume zu eröffnen (Freiheit Typ I). Die wohlverstandene Wahrnehmung der individuellen Freiheit stärkt die Gemeinschaft. Untertanen werden zu angemessenem Verhalten gezwungen, freiheitliche Personen verhalten sich moralisch.

Gegen die weit verbreitete Auffassung, Preußen sei nur ein an Sekundärtugenden orientierter Militärstaat gewesen, macht Gerd Habermann die liberale Sicht geltend und widmet dem Zusammenhang von Liberalismus und Demokratie ein Kapitel. Das Wartburgfest 1817, das Hambacher Volksfest 1832, der tollkühne Studentenaufstand in Frankfurt 1833, der Protest der Göttinger Sieben 1837, die Badische Revolution 1848 sind wichtige Merkpunkte des 19. Jahrhunderts. Gerd Habermann bezeichnet die Zeit von 1818 bis 1878 als die „wirtschaftlich freieste Epoche in der deutschen Geschichte“. Allerdings: Bismarcks Gewaltpolitik ab 1864 bremste die Liberalisierung aus. Im 20. Jahrhundert gab es nochmal ein beachtliches Wiedererwachen des Liberalismus: Ludwig von Mises, Alexander Rüstow, Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard, Friedrich August von Hayek. 

Schauen wir aber in die Gegenwart, müssen wir feststellen: Der sogenannte Kulturmarxismus ist in alle Bereiche vorgedrungen. Klimakrise, Flüchtlingskrise, Corona-Epidemie und der uns durch die Aggression Rußlands gegen die Ukraine aufgezwungene Wirtschaftskrieg haben politischen Interventionismus und Dirigismus weiter entfesselt. Eine steuerfinanzierte Parteienoligarchie und weitgehend von den Regierungen finanzierte, angeblich unabhängige sogenannte Nicht-Regierungsorganisationen haben die kollektive Mitbestimmung (Freiheit Typ II) so gut wie paralysiert. Der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands ist absehbar. „Nur ein Freiheits- und Subsidiaritätsprogramm in Wirtschaft und Gesellschaft, das die Erfolgsregeln von Marktwirtschaft und die Überlebensregeln eines politischen Gemeinwesens beachtet, wird die Zukunft dieses Landes und Europas sichern können.“

Verbeugen Sie sich nicht vor den modernen Geßlerhüten! Schlagen Sie der Freiheit neue Gassen! Das geistige Rüstzeug ist vorhanden. Das sind die Aufrufe und Anregungen des Autors. In seinem unlängst auf der Konferenz „Freiheitskultur des Westens – ihre Krisen, ihre Zukunft“ des Ludwig-von-Mises-Instituts gehaltenen Vortrag hat Habermann das auf das symbolträchtige Zitat gebracht: „Steigende Flut – macht die Boote flott!“

Gerd Habermann: Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. Lau Verlag, Reinbek 2022, gebunden, 307 Seiten, 28 Euro