© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Warum Konservative fehlgehen, wenn sie Woke mit Marxisten verwechseln
Ein ausgereiztes Feindbild
Paul Gottfried

Wenn es darum geht, die woke Entwicklung in der westlichen Welt zu stoppen, haben viele Konservative ihren Schuldigen sofort parat: Staatsführungen und Leitmedien seien zunehmend vom Sozialismus geprägt, die marxistische Grundtönung präsentiere sich lediglich in einem neuen Gewand, lautet der rechte Tenor. Das ist kaum verwunderlich, schließlich wurde die konservative Bewegung bis zum Fall der Sowjetunion vor allem durch ihren Anti-Kommunismus zusammengeschweißt.

Vor zwei Jahren erschien in den USA ein Bestseller des „Fox News“-Stars Mark Levin, der sich über 700.000mal verkaufte: „American Marxism“ („Amerikanischer Marxismus“). In seinem Buch erklärt Levin den Lesern seine ganz eigene Sicht der Geschichte: Knallharte Marxisten hätten seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts die amerikanische Linke übernommen und würden nun unsere Freiheit bedrohen. Seiner Auffassung nach ist die einzig echte amerikanische Staatsphilosophie die naturrechtliche Lehre der Gründervater, die in der US-Unabhängigkeitserklärung ihren Ausdruck fand und die Gleichberechtigung aller Menschen bejahte. Nun aber habe eine marxistische Ersatzreligion diese klassisch-liberale Grundlehre verdrängt und als Fremdkörper unser Verständnis der „wahren Demokratie“ getrübt. Doch nicht nur bleibt sein Marxismus-Begriff im gesamten Buch völlig vage, auch verschleiert seine als Beispiel dienende These schlicht die Wirklichkeit: Der Marxismus ist vorbei, die Linke in den USA und Europa hat sich längst von ihm verabschiedet und ist in andere Gefilde abgedriftet.

Obwohl eine sowjetische (im Gegensatz zu einer russisch-nationalen) Bedrohung uns nicht mehr zusetzt, spukt das kommunistische Gespenst dennoch weiter im Westen herum. Konservative haben in ihm eine argumentative Allzweckwaffe, die gegen Linksliberale oder außenpolitische Widersacher eingesetzt werden kann. Den Anti-Kommunisten gefällt es, die woke Linke als eine Unterart der marxistischen Bedrohung zu interpretieren. Wenn übereifrige Linke innerhalb der westlichen Politik- und Kulturwelt unsere Freiheiten und unsere familiären Strukturen angreifen, dann wird stets auf ein verschwommenes Marxismus-Bild verwiesen. Und das ist das Problem: Der marxistische Teufel an der Wand erlaubt es vielen Konservativen, sich die Unannehmlichkeit zu ersparen, es mit dem tatsächlichen und lebendigen politischen Kontrahenten aufzunehmen.

Warum sollte sich ein ehrgeiziger Politiker der Wut der woken Machthaber aussetzen, wenn er stattdessen ganz einfach einen alten Feind am Leben halten kann? In den USA versprach die republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley kürzlich hitzig ein Gefecht „gegen den Sozialismus“ zu führen. Auch in Deutschland kennt man derartige Sprüche aus dem liberalkonservativen Milieu. Es ist eine weniger risikobehaftete Geste als das Wagnis, antiweißen Rassisten oder LGBT-Lobbyisten entschlossen entgegenzutreten. Konservative Politiker können wochenlang Sprüche über ihren Kampf gegen den aufkommenden Sozialismus schwingen, ohne irgendeine feindliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im selben Atemzug wettern diese Leute permanent gegen das woke „Social Engeneering“, was sie dann mit den Methoden der chinesischen Regierung gleichsetzen, da diese bei ihnen noch immer unter dem Label „Marxismus“ firmiert.

Während sich aber der Marxismus mit der politischen Ökonomie befaßt, versuchen die heutzutage an die Macht gelangten Radikalen, alle angestammten kulturellen Institutionen und einstmals festgesetzten Gemeinschaftsbeziehungen abzuräumen. Wann hat die Sowjetunion jemals verkündet, daß Geschlechter nur eine soziale Konstruktion seien? Eine Gemeinsamkeit zwischen einerseits dem wirtschaftlichen Sozialismus mitsamt der Errichtung eines Arbeiterstaats und anderseits dem Abschleifen von Geschlechtsunterschieden, einschließlich selbstgewählter Pronomen, ist schlichtweg nicht vorhanden. Und so reicht ein längst ausgereiztes Feindbild nicht mehr aus, um die gegenwärtigen Umstände der westlichen Welt näher zu beleuchten.

Selbst Marxisten vom alten Schlag geraten bei ihren vermeintlichen Mitkämpfern ins Fadenkreuz, weil sie auf die woke Konstruktion der Linken einfach nicht umschwenken wollen. Eine lupenreine marxistische Professorin in Kanada, Frances Widdowson, wurde im Dezember 2021 von ihrer Lehrstelle an der Mount Royal Universität in Calgary entlassen, nachdem aufgedeckt wurde, daß sie die woke Kultur in ihren Schriften verhöhnte. Die Behandlung von besonderen Identitätsgruppen und kauzigen Wesen als ewige staatsbeschützte Opfer, so Widdowson, passe mit der marxistischen Betonung auf einer Klassenidentität und der Verstärkung des kollektiven Bewußtsein der Arbeiterschaft nicht zusammen. 

Auch Raju Das, der an der York University in Toronto lehrt, wetterte gegen die geläufige Methode, das Klassenbewußtsein durch eine woke Rangordnung der Diskriminierten zu verdrängen. Dadurch werde es ermöglicht, reiche Frauen oder wohlhabende Schwule zuungunsten der weißen Arbeiterschaft zu bevorzugen. Raja Das, ebenfalls überzeugter Marxist, schreibt voller Zorn: „Eine weibliche Milliardärin oder eine kriegslüsterne bürgerliche Politikerin appelliert an die Frauen, sie zu wählen, weil ‘ich eine Frau bin’. Das ist Identitätspolitik, die die Voreingenommenheit der herrschenden Klasse des Politikers verbirgt.“ Wie andere aufrichtige Marxisten ist der Ökonom verständlicherweise empört, daß die heutige Linke von Kapitalisten mit prall gefüllten Geldbeuteln besetzt ist und daß es dieser Schickeria gestattet ist, ihr angebliches Dasein als Ausgebeutete allein mit ihren erotischen Vorlieben zu begründen. 

Auch die Abneigung der gegenwärtigen kommunistischen Parteiführer in Osteuropa gegenüber der westlichen Linken beweist die gravierenden Unterschiede zwischen dem überlieferten Marxismus und dessen Vertretern sowie dem woken Zeitgeist, der alle westlichen „demokratischen“ Regierungen durchdringt. Der Vorsitzende der Ungarischen Arbeiterpartei (Magyar Munkaspart), Gyula Thürmer, hält der woken Linken in Europa Standpauken am laufenden Band. Überdies nimmt Thürmer auf eine „nationalkommunistische“ Identität bezug und kritisiert Viktor Orbáns Regierung, weil diese nicht Siebenbürgen von den Rumänen zurückfordert. Als Chef einer ausdrücklich nationalen Arbeiterpartei nimmt Thürmer obendrein die „nachgiebige“ ungarische Staatsführung wegen ihres Festhaltens an der Wirtschaftspolitik der EU ins Korn. Er pocht auf die Notwendigkeit, Zölle zum Schutz der ungarischen Landwirtschaft und des abgezockten ungarischen Bauerntums einzuführen. Zum Parteiprogramm der gegenwärtigen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation gehören als wichtigste Grundziele das Verteidigen der Russisch-Orthodoxen Kirche als Hüter des nationalen Bewußtseins sowie das Fernhalten von LGBT-Unterricht aus dem russischen Bildungssystem. Seit jeher haben kommunistische Parteiführer über Homosexualität hergezogen und „sexuell abartiges Verhalten“ als kennzeichnend für die bürgerliche Dekadenz befunden.

Zwischen dem Kommunismus in Theorie und Praxis sowie der woken Ideologie besteht also eine riesige Kluft. Die neuere linke Kampffront verwirft jede Form von Rationalität deutlich grundlegender als der Marxismus, der sich selbst ja als wissenschaftliche Strömung versteht und an einer verwissenschaftlichten Geschichtsauffassung festhält. Woke Polemiker hingegen kümmern sich erst gar nicht um einen kohärenten Denkansatz für ihre Vorstellungen. Sie leben in einer Blase von Ausdrücken wie „weiße Vorherrschaft“ oder „heteronormative, patriarchalische Herrschaft“.

Im Gegensatz zu den oft sittenstrengen kommunistischen Regierungen der jüngeren Vergangenheit treten die Fürsprecher der Wokeness für eine Verkehrung jedweder „überkommener“ Sexualmoral ein. Eine Tendenz, die auf eine Absage an Geschlechtsunterschiede und geschlechtsunterscheidende Pronomina hinausläuft. In diesem Zusammenhang ist auch die Transgender-Agenda zu verstehen, für die sich die „woke“ Schickeria und die Leitmedien stark machen. Geschlechtsidentität stellt demzufolge einen selbstbezogenen, wechselbaren Vorzug dar. Der Einzelne kann immer das Recht in Anspruch nehmen, sein Geschlecht nach Belieben zu bestimmen und wunschgemäß zu verändern.

Die einzige Ausnahme ist jedoch die Befugnis, seine Hautfarbe zu wechseln. Dem nichtschwarzen Individuum bleibt es natürlich verwehrt, sich den empirischen Tatsachen zuwider zu einem Schwarzen zu erklären. Ansonsten steht es dem Einzelnen frei, seine Geschlechtsidentität beliebig zu wählen und sich ganz nach Laune seine Geschlechtsteile zu verstümmeln. Und so betrachtet der moderne Aufgeklärte alle Versuche, sich dieser Entwicklung zu verweigern, als einen Rückschritt in die verklemmten alten Zeiten, aus denen sich auch der Faschismus entwickelte.

Der nüchterne Betrachter muß erschaudern, wenn er bedenkt, daß sich im Westen die Anhänger dieser seltsamen Glaubenslehre durch beinahe alle politischen Parteien, Bildungsanstalten, und Medienbranchen zielbewußt durchgeschlagen haben. Vor allem aber beherrschen sie die Finanzwelt: Kurz bevor die Silicon Valley Bank pleite ging, spendete das Finanzinstitut noch 73 Millionen Dollar an „Black Lives Matter“-Aktivisten. Überdies gab deren Verwaltung deftige Summen aus, um ihren Angestellten Unterricht über die Verwendung einer geschlechtsneutralen Sprechweise zu geben.

Die großen Vermögensverwalter und Finanzinstitute wie Morgan Stanley, Citibank oder Goldman Sachs lenken bereits seit Jahren die eingezahlten Gelder ihrer Anleger an linke Lobbyvereine um. Das ist alles bezeichnend für das enge Verhältnis zwischen den woken Militanten und dem Finanzkapital. Den Kommunismus müßten diese Leute fürchten, vor der Scheinbedrohung eines „woken“ Sozialismus brauchen sie keine Angst zu haben.






Paul Gottfried, Jahrgang 1941, lehrte an der Universität von New York und dem Elizabethtown College in Pennsylvania. Er ist Experte für den amerikanischen Konservatismus und veröffentlichte etliche Bücher, zuletzt „Antifacism. The Course of a Crusade“.