Großbritannien ist für Goethes Werk seit 200 Jahren ein guter Resonanzraum. Schon 1819, zu Lebzeiten des „Olympiers“, begann der schottische Publizist Thomas Carlyle damit, im Vereinigten Königreich die Werbetrommel für „die letzte epochale Erscheinung seit der Renaissance“ (Georg Lukács) zu rühren. Mit Erfolg, denn während im vormärzlichen Deutschland Goethes Ansehen bald nach seinem Tod 1832 stetig sank, weil es Literaten wie Ludwig Börne gelang, ihn als „Fürstenknecht“ und kulturelles Aushängeschild des semiabsolutistischen Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach zu brandmarken, blieb ihm die Gunst gerade des britischen Lesepublikums erhalten, das bis heute gegenüber „kontinentalen“ Koryphäen ansonsten in spröder „splendid isolation“ zu verharren pflegt.
Kein Wunder also, wenn die erste umfassende, aus Quellenstudien erwachsene Biographie 1855 in London erschien: „The Life and Works of Goethe“ von George Henry Lewes, einem rührigen Schriftsteller und Literaturkritiker. Dieses dicke Buch gilt als Meilenstein der britischen Goethe-Rezeption im 19. Jahrhundert, die mit Carlyles Mittlertätigkeit einsetzt und mit der Gründung der „English Goethe Society“, 1886, nur ein Jahr nachdem die deutsche Goethe-Gesellschaft aus der Taufe gehoben worden war, einen Höhepunkt erreicht.
Seitdem spielt die britische Germanistik in der internationalen Goethe-Forschung vorne mit – wie zuletzt die provokanten, in den 1990ern „Tabuzonen um Goethe“ ausleuchtenden Publikationen des in London lehrenden US-Amerikaners W. Daniel Wilson, die den Weimarer Minister als Soldatenhändler, Unterdrücker der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit und Verächter der „Menschenrechte“ anklagen, sowie die Goethe-Biographie von Nicholas Boyle (deutsch 1995/1999) beweisen. Boyles Monument ist mit seinen zwei, nur bis 1803 reichenden Bänden von fast 2.000 Seiten allerdings Fragment geblieben. Bislang, denn es heißt, der jetzt 77jährige Cambridger Emeritus gedenke einen bis 1832 reichenden Band noch nachzureichen.
Der Autor will sein eigenes Weltbild mit Goethe legitimieren
Jüngster Beleg für die Vitalität der britischen Goethe-Passion ist nun Jeremy Adlers Arbeit, die weniger eine streng chronologisch verfahrende Biographie wie die Boyles als eine dem Stil Wilsons verpflichtete, politisch motivierte Untersuchung ist, die den Dichterheroen mit Hilfe zahlreicher argumentativer Brechstangen in einen der „Erfinder der Moderne“ verwandelt.
In welchen Text Goethes sich Adler zu diesem Zweck auch immer vertieft, überall entdeckt der Interpret Vorwegnahmen von Elementen eines Weltbildes, das ihm selbst Orientierung gibt.
So feiert er Goethe als Mitbegründer des Liberalismus, Verteidiger des Individuums und seiner Grundrechte, Anreger des Rechtsstaats und des demokratischen Wertepluralismus, geistigen Urheber der Weimarer Republik von 1919, die ein – man höre und staune – „prinzipiell kosmopolitischer Staat“ gewesen sei. Ferner profilierte sich Goethe als Gegner des Nationalismus und des Nationalstaats, als Kosmopolit und Vordenker der Globalisierung, ja als Verfechter eines „Globalismus der Humanität“, der sich in der Kultur der Bundesrepublik vor allem in der großzügigen „Gastfreundschaft“ für „Migranten aus dem Mittleren Osten und heute aus der Ukraine“ realisiert habe.
Goethes „Faust“ liest Adler als „Dichtung des Liberalismus katexochen“. Das antirevolutionäre Versepos „Hermann und Dorothea“, das für alle Interpreten seit Wilhelm von Humboldt „deutsche Bürgertugenden“ und die Familie als „Substanz des deutschen Geistes“ (Victor Hehn) verklärt, sei „weniger eine deutsche Idylle als vielmehr ein kosmopolitisches Epos“. „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre“ ist selbstredend der erste „globale Roman“. Und das Drama „Iphigenie auf Tauris“ zählt er zur „Avantgarde des Protofeminismus“, dessen Autor sei überhaupt ein „Wegbereiter des Feminismus“.
Goethe ist wahrlich kein Apostel der neoliberalen Weltunordnung
Damit nicht genug, der „grüne Goethe“ legte die Fundamente des modernen Umweltdenkens, und das Weimarer Universalgenie soll als Botaniker und Zoologe auch Darwins Evolutionstheorie und die moderne Molekularbiologie antizipiert haben: „Goethes Modell der Spiralförmigkeit des Lebens nimmt die Doppelhelix vorweg.“ Nur ein einziger Schatten fällt auf diese Lichterscheinung: seine Judenfeindschaft. Die Adler aber in üblicher schlechter Manier psychologisiert statt sie historisch-soziologisch akkurat zu analysieren. Daher erkennt er in den einschlägigen Äußerungen allein „widerliche, rückständige Vorurteile“, die von einer „sozialen Pathologie der Moderne“ künden. Ein Grund, wegen einer solchen „Schuld“ auch diesen alten weißen Mann vom Sockel zu stoßen, ist das für seinen unerschütterlichen Verehrer jedoch nicht.
Um einen solchen zwar durchaus sympathischen, aber eben vielfach unwissenschaftlich-ahistorischen, politisch so korrekten wie übergriffigen Goethe-Enthusiasmus zu verstehen, helfen ein paar Informationen zur Biographie des Biographen: Jeremy Adler, Jahrgang 1947, ist der Sohn des aus Prag stammenden Schriftstellers, Soziologen und Holocaust-Überlebenden Hans Günther Adler (1910–1988), der mit seiner aus eigener leidvoller Erfahrung gespeisten Monographie „Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft“ (1955) die zeithistorische Forschung über das NS-Lagersystem begründete.
Die Goethe-Fixierung seines Sohnes resultiert aus der bildungsbürgerlichen, der deutschen Kultur liebend zugewandten Tradition des Prager Judentums, die der lange am Londoner King’s College tätig gewesene Literaturhistoriker mit dem im englischen Intellektuellenmilieu vorherrschenden Linksliberalismus kombiniert hat. Adlers öffentliches Engagement gegen den Brexit, für den Verbleib seines Landes in der zentralistischen EU, für unbegrenzte Massenmigration nach Westeuropa, ist daher nur konsequent. Ebenso der Versuch, seine politisch-weltanschaulichen Präferenzen jetzt mit der Autorität Goethes zu legitimieren.
Doch dieser Versuch muß scheitern, weil Adler seine schillernden Hochwertbegriffe, Freiheit, Liberalismus, Individualismus, Kosmopolitismus, Globalismus, Menschheit, nirgends definiert, so daß nicht plausibel wird, ob sie mit dem Verständnis, das Goethe von ihnen hat, übereinstimmen. Das tun sie offenkundig nicht, wie Adler in vielen, mit Dutzenden Widersprüchen gespickten Kapiteln zumeist unfreiwillig selbst einräumt. Etwa wenn er ausführt, ein liberales System verhindere Antisemitismus nicht nur nicht, es schaffe sogar die Voraussetzung dafür, da die liberale Utopie scheitere, wenn moderne säkularisierte Gesellschaften nicht alle Unaufgeklärten, Unzivilisierten, religiös Verstockten bei Strafe ihres eigenen Untergangs rigoros ausschlössen.
Von dieser scharfsinnigen Erfassung einer liberalen Aporie, die auffällig mit Adlers Bemühen kollidiert, mit Goethes Werk für offene EU-Außengrenzen zu werben, wäre es nur ein kleiner Schritt gewesen zur prophetischen Einsicht des an Carl Schmitt geschulten jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes (JF 13/23): „Ich möchte auch gern liberal sein. Aber die Welt ist nicht so, daß man liberal sein kann. Das geht auf Kosten anderer; die Frage ist, wer zahlt das; und die dritte und die vierte Welt, die fünfte und sechste Welt, die auf uns zukommt, die werden also gar nicht liberal sein, sondern da werden brutale Forderungen sein“ (1988).
Je weiter Jeremy Adler zum alten Goethe und zu „Faust II“ vorrückt, desto weniger bleibt daher von seinem Konstrukt „Erfinder der Moderne“ übrig. Nach dem Auftritt des vermeintlichen Wegbereiters der schönen neuen modernen, kosmopolitisch „einen Welt“ muß Adler in den zentralen Kapiteln seiner Arbeit die Bühne dem schärfsten Kritiker ihrer kapitalistischen Fundamente vor Karl Marx und Friedrich Engels freigeben. Der am Vorabend der industriellen Revolution resigniert in eine rabenschwarze Zukunft schauende Goethe ist wahrlich kein Apostel der neoliberalen Weltunordnung. Dies haben die von Adler immerhin in schwacher Dosierung rezipierten bahnbrechenden Forschungen des Germanisten Michael Jaeger, Privatdozent an der FU Berlin, unmißverständlich klargestellt („Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne“, 2005; „Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie. Oder die große Transformation der Welt“, 2014; „Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart“, 2018).
Vielmehr ist dieser späte Goethe der titanische Antipode eines Systems der forcierten Entpersönlichung, Atomisierung und Entmenschlichung, wie es sich derzeit im EU-Raum als ökosozialistischer Überwachungskapitalismus perfektioniert. Mit dessen weit brutalerem Vorstadium, der totalitären NS-Lagerbürokratie, wie sie Hans Günther Adler in seinem zweiten, alle an die „Freiheit des Marktes“ geknüpften liberalen Illusionen zerstörenden Standardwerk „Der verwaltete Mensch“ (1974) rekonstruiert, müßte eigentlich niemand vertrauter sein als sein Sohn.
Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne.
Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2022, 655 Seiten, Abbildungen, 34 Euro