© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Bis zum Jahr 2030 werden in Frankreich wohl zwischen 2.500 und 5.000 Kirchen aufgegeben werden müssen, da die zuständigen Gemeinden nicht in der Lage sind, die Mittel für die Erhaltung zur Verfügung zu stellen. Angesichts dessen haben 101 Mitglieder des Senats – eine Art französisches Oberhaus, das mittelbar von Regionalpolitikern gewählt wird – eine Resolution unterschrieben, die die Regierung auffordert, Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Teil des nationalen Erbes zu retten. Eine Rolle spielt im Hintergrund das Bekanntwerden der Tatsache, daß das französische Kulturministerium über einen Etat von elf Milliarden Euro verfügt, davon aber lediglich eine Milliarde zur Bewahrung des „Patrimoine“ verwendet, während vier Milliarden in den Bereich der audiovisuellen Medien und Sozialen Netzwerke gehen, vor allem um Werbung für die ideologischen Hauptanliegen der „Macronisten“ zu machen.

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Ein Fehler im Weltenplan ist die Fortexistenz der Frankfurter Rundschau, wenn selbst nur in einer Online-Version. Schließlich hat sie ihre historische Aufgabe erfüllt. Die penetrante Mischung aus Selbsthaß, reorientation und Vergangenheitsbewältigung, die ihre Beiträge seit je durchzog (und sie zur Lieblingslektüre westdeutscher Politiklehrer machte), gehört längst zur Weltanschauung des Durchschnittsbürgers.

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Wer an einer „Fridays for Future“-Demonstration teilnimmt, verzichtet automatisch auf jede Teilnahme an Klassen-, Kurs- und Abi-Fahrten. Er leistet damit nicht nur einen Beitrag zum Klimaschutz (den er so wichtig findet), sondern auch zum Kulturschutz (den ich so wichtig finde). 

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Es ist heute kaum noch vorstellbar, welche Wirkung Bilder als solche in der Vergangenheit ausgeübt haben. Das galt sogar, nachdem Verfahren zu deren technischer Reproduktion längst verbreitet waren. So erinnere ich mich noch an die Überraschung, als meine Lehrbücher in den 1960er Jahren mit Fotografien – die meisten in Schwarz-Weiß – ausgestattet wurden. Manche übten einen so nachhaltigen Eindruck aus, daß ich das abgebildete Objekt unbedingt in natura sehen wollte. Das galt etwa für den Bamberger Reiter oder die Uta von Naumburg, aber auch für den Löwenbrunnen in der Alhambra. Es hat gedauert, aber nun konnte ich auch letztgenannten in Augenschein nehmen – und war nicht enttäuscht.

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Die Theologische Fakultät der Universität Helsinki hat die Absicht, Greta Thunberg den Titel eines Ehrendoktors zu verleihen, die höchste Auszeichnung der akademischen Welt. In einem Zeitungsinterview begründete Professor Martti Nissinen die Entscheidung damit, daß die Fakultät ihre Sicht auf die Menschenrechte und den Zustand der Erde erweitern möchte: „Indem wir Greta zum Ehrendoktor ernennen, erklären wir, daß wir genauso mutig und einflußreich sein wollen wie sie.“ Verstörend ist, daß Repräsentanten der Wissenschaft meinen, von einer immer noch sehr jungen Frau, die mit sechzehn Jahren die Schule abgebrochen hat, etwas lernen zu können. Erhellend ist, daß der parareligiöse Charakter des „Klimakampfs“ an dieser Stelle ebenso deutlich wird wie die fortschreitende inhaltliche Entleerung christlicher Theologie.

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Unterschwellig wirkt bei der Aggressivität gegen uns Boomer ein antifaschistischer Impuls mit, denn ein erheblicher Teil unserer Eltern stammte aus den „Hitlerjahrgängen“.

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In Nicaragua sind auf Anordnung des Präsidenten Daniel Ortega alle Osterprozessionen und religiösen Bekundungen in der Öffentlichkeit verboten worden. Der Papst hat gegen die Maßnahmen protestiert. Doch das erscheint als mehr oder weniger isolierter Akt, zumal man von politischer Seite offenbar entschlossen ist, die Vorgänge eher abzutun und über die immer brutaleren Unterdrückungsmaßnahmen des Systems hinwegzusehen. Vielleicht erklärt sich diese Zurückhaltung aus nostalgischen Sentiments in bezug auf Ortega, der einst zu den „Commandantes“ der Sandinisten gehörte. Deren Kampf gegen das lange von den USA gestützte Somoza-Regime genoß in linken Kreisen des Westens – auch und gerade den christlichen – viel Sympathie. Nach dem Sieg der Sandinisten im Jahr 1979 blickten alle Progressiven erwartungsvoll auf den nicaraguanischen Weg zum Sozialismus, obgleich der rasch in Richtung Moskau führte, mit wirtschaftlichem Niedergang und auch mit Repressalien gegen die Kirchen verbunden war. Zwischendurch schien es, als ob die Entwicklung korrigiert werden könnte, aber letztlich folgte alles dem ermüdenden Muster lateinamerikanischer Revolutionen: Clique I kommt an die Macht, schaltet die Opposition aus und errichtet eine Diktatur mit kleptokratischen Zügen; die Verhältnisse werden unerträglich, es formiert sich bewaffneter Widerstand, es kommt zum Sturz von Clique I; nach einer Phase des Übergangs, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, kommt Clique II an die Macht, schaltet die Opposition aus und errichtet eine Diktatur mit kleptokratischen Zügen. Bleibt nur die Frage, wann die Verhältnisse in Nicaragua wieder unerträglich werden und sich bewaffneter Widerstand formiert.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 28. April in der JF-Ausgabe 18/23.