Es sind schwere Zeiten für Europa. Steigende Energie- und Lebensmittelpreise, hervorgerufen nicht zuletzt durch wirtschaftliche Sanktionen, Rezessionen und von hegemonialen Interessen gesteuerte Informationen bestimmen die internationalen Beziehungen sowie das Leben der Menschen. Trotz vielfältiger kultureller und sozialer Verbindungen zwischen den Staaten und ihren Eliten kommt es zu einem Phänomen, das man seit einigen Jahrzehnten überwunden zu haben glaubte: Kriege, die nicht nur unzählige Menschenleben kosten, sondern die Strukturen des Kontinents in seinen Grundfesten erschüttern.
Die Rede ist natürlich von den Vorgängen im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Cora Stephan in ihrem neuen Roman „Über alle Gräben hinweg“ auf emphatische Weise schildert. Am Anfang steht das Europa des Friedens: ein rauschender Empfang auf dem oberschlesischen Schloß Pleß um 1910. Gastgeberin ist Prinzessin Daisy, eine historische, durchaus schillernde Figur aus dem britischen Landadel, die für ihre Feste, ihre Beziehungen – zu ihrem Kreis gehörten Persönlichkeiten bis hin zu Kaiser Wilhelm II. – und ihr soziales Engagement bekannt war. Mit Daisy von Pleß verweist die Autorin schon zu Beginn des Romans auf die vielfältigen Verbindungen innerhalb des europäischen Adels, insbesondere zwischen Deutschland und Großbritannien. Verbindungen, die von diesem Tag an auch das Leben von Benita, tragende Figur der ersten Romanhälfte, bestimmen werden – die jedoch allesamt nicht ausreichten, um zwei Weltkriege zu verhindern.
Auswirkungen der Politik auf die Alltagswelt
Auf Schloß Pleß lernt Benita, Tochter eines angesehenen Arztes, Ludwig von Sedlitz kennen. Nach ihrer Heirat leben sie auf Gut Mondsee in Niederschlesien, wo 1911 der gemeinsame Sohn Alard geboren wird. Es ist ein arbeitsreiches, doch friedliches Leben – dem der Erste Weltkrieg ein nicht unvorhergesehenes, dennoch jähes Ende setzt. Während Benita die Bewirtschaftung des Gutes übernimmt, agiert Ludwig auf politischer Ebene: Zunächst im engen Umfeld des Kaisers, bemüht er sich nach dessen Abdankung darum, trotz innerdeutscher Umsturzbestrebungen und der Sanktionen der Siegermächte „das Reich zu retten“.
Zahlreiche politische Verstrickungen und Neuordnungen zu Zeiten der Weimarer Republik, darunter auch der Russsiche Bürgerkrieg im Gefolge der Oktoberrevolution sowie das deutsch-polnische Ringen um Oberschlesien, werden durch das Erleben der Eheleute sowie durch Veränderungen innerhalb der Familie thematisiert. Damit gelingt es der Autorin, die Ebene der Politik eng mit deren direkten Auswirkungen auf die Alltagswelt zu verknüpfen und widerstreitende Positionen aufzuzeigen.
Denn diese wachsen auch im eigenen Hause: Der junge Alard versteht sich als überzeugter Pazifist und liegt damit ganz im intellektuellen Trend seiner Zeit. Während eines Studienjahrs in Cambridge treffen endlich Alard von Sedlitz und Liam Broedie aufeinander, deren Väter seit deren eigener Studienzeit in engem Kontakt geblieben waren. Liam, ein robust-kerniger Schotte (dessen Begeisterung für die Engländer sich in Grenzen hält), macht den eher vorsichtigen und feingeistigen Deutschen mit einer Welt voller Abenteuer und handfester Männlichkeit bekannt. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die selbst beider anfänglich konträre Ansichten zu Hitler übersteht. Während der Roman nun zur Perspektive der beiden jungen Männer wechselt, gerät er zum wahren Politthriller: Gemeinsam versuchen Alard, inzwischen Mitarbeiter beim Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches, und Liam, Agent des britischen Auslandsgeheimdienstes SIS, einen weiteren Krieg zu verhindern. Erfolglos, selbstredend. Denn wie es Winston Churchill einst so markant ausdrückte: „Unser Ziel ist die Vernichtung Deutschlands.“
Kritische Sicht auf die Rolle
des britischen Geheimdienstes
Mit „Über alle Gräben hinweg“ ist Cora Stephan ein Roman gelungen, der einen Bogen über die zerstörerische Politik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spannt. Hierfür gibt es durchaus zahlreiche Vorgänger; interessant wird der vorliegende Roman vor allem, weil er von den Rändern, von Schlesien und Schottland ausgehend erzählt. Der Roman ist umfangreich recherchiert und vermittelt historische Fakten und Theorien, die einem breiten Publikum nicht unbedingt geläufig sein dürften. Insbesondere die Perspektive des alten schottischen Clans der Broedies, dessen Abneigung gegen die britische Krone tief verwurzelt ist, ermöglichen eine kritische Sicht auf die Rolle des britischen Geheimdienstes angesichts der Vorgänge, die zum Zweiten Weltkrieg führten. Die promovierte Historikerin Cora Stephan ließ sich hierfür übrigens „durch ganze Stapel von Büchern insbesondere britischer Historiker“ inspirieren, wie sie in ihrem Dankwort vermerkt.
Literarisch zeugt „Über alle Gräben hinweg“ vom Glück des Bewährten – entsprechend dem Untertitel ihres jüngsten Sachbuches „Lob des Normalen“: Cora Stephan ist keine zwanghafte Sprachakrobatin, verfolgt keine experimentellen Erzähltheorien neuesten Zuschnitts. In seiner ruhigen, doch lebendigen Sprache lebt der Roman von plastischen und zugleich einfühlsamen Beschreibungen der sich rapide verändernden Lebenswelten seit dem frühen 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei bedient sich die Autorin eines durchaus spannenden Genremixes von Gesellschaftsroman über Historiendarstellung und Kriegsreportage (Liam verschlägt es in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Spanien) bis zum Politthriller, in dem auch romantische Anklänge nicht fehlen. Der Witz sowie die oft verblüffenden Bezüge, die ein Markenzeichen der Artikel und Kommentare der Journalistin Cora Stephan sind, finden sich in zahlreichen Situationen und Dialogen wieder. Selbst Margo Hegewald aus Stendal, die titelgebende Figur aus Stephans Romanen „Ab heute heiße ich Margo“ (2017) und „Margos Töchter“ (2020), erlebt zum Ende des aktuellen Buches ihren chronologisch ersten Auftritt.
Trotz seines historischen Inhalts ist „Über alle Gräben hinweg“ auch ein höchst aktueller Roman: Anhand der Schilderung zweier Weltkriege läßt sich nachvollziehen, wie eine internationale Gemengelage aus aggressiven Nationalismen und hermetischer Blockbildung, aus dem Versagen oder der Verweigerung diplomatischer Bestrebungen, skrupellos verfolgten hegemonialen wie wirtschaftlichen Interessen sowie jegliche Vernunft unterminierender Propaganda sich zu einer explosiven Mischung verbinden kann, durch die (fast) niemand gewinnt. Denn, so vermerkt der Roman zum Ende: „Die britischen Sieger hatten in dem gigantischen Schlachten ebenso verloren wie die Besiegten. Nur Stalin hatte sich auf dem Kontinent fett gefressen. Und, dachte Liam, die USA an unserem verwundeten Leib.“
Cora Stephan: Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, gebunden, 432 Seiten, 24 Euro