© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Die giftigen Wurzeln freilegen
Nationale Identität: Konservativen und Rechten fehlt hierzulande für eine Bündnisstrategie nach italienischem Vorbild die geistige Grundlage
Thorsten Hinz

In Italien scheint gelungen, wovon man in Deutschland kaum zu träumen wagt: Eine agile Rechte kooperiert mit den in den Pfründen bequem und denkfaul gewordenen Konservativen. Gemeinsam stellen sie die Volkssouveränität wieder her und sichern Staat und Nation in einem „Europa der Vaterländer“.

Vermutlich steckt mehr Wunsch als Wirklichkeit in dieser Darstellung, doch der taktische Erfolg ist unbestreitbar. Als Erfolgsrezept hat der junge Intellektuelle und Politiker Francesco Giubilei im JF-Interview auf Antonio Gramscis (1891–1937) Konzept der „kulturellen Hegemonie“ verwiesen (JF 51/22). Die Rechte, so Giubilei, benötige erstens eine „kulturelle und metapolitische Strategie“, die auf einer „soliden Wertebasis“ beruhe. Zweitens dürfe sie sich nicht genieren, „Ämterpatronage“ zu betreiben, um „Einflußpositionen“ zu besetzen und eine „leitende Schicht“ aufzubauen.

Die Ratschläge klingen in deutschen Ohren wenig originell. In der Bundesrepublik haben die 68er mit Erfolg den „Marsch durch die Institutionen“ absolviert. Eben deswegen ist eine rechte Kopie mit dem Ziel eines Rollbacks unrealistisch.

Zudem ist zweifelhaft, ob die „kulturelle Hegemonie“ gegenwärtig noch viel erklärt. Für Gramsci, den Mitbegründer und zeitweiligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, bedeutete sie „geistige und moralische Führung“ als Teil der „Vormachtstellung einer sozialen Gruppe“, die ihrer politischen Herrschaft vorausgeht. Den historischen Hintergrund bildeten in den 1920er und 30er Jahren zum einen das Elend des Proletariats und der kleinen Bauern, zum andern die marxistisch-leninistisch grundierte, sozialistische Utopie, die in der Sowjetunion scheinbar Wirklichkeit wurde. Mithin gab es ein die Massen bewegendes und einendes Problem – die soziale Frage –, eine kohärente Welterklärung, ein Zukunftsversprechen und ein politisches Konzept. Wer diese Elemente überzeugend bündelte, hatte Aussicht auf die kulturelle Hegemonie. In der praktischen Politik braucht es Bündnispartner. Daher forderte Gramsci, daß die klassenbewußte Arbeiterschaft im Norden ihre Vorurteile und egoistischen Tendenzen überwinden müsse, um das Vertrauen und die Unterstützung der halbproletarischen und bäuerlichen Schichten in Süditalien zu gewinnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg generierte der kapitalistische Westen einen Massenwohlstand, weshalb die Arbeiterschaft das Interesse an der Revolution verlor, während das angeblich von Ausbeutung befreite Proletariat im Osten neidisch durch den Eisernen Vorhang lugte. Die kulturmarxistische Linke verlegte daher ihre revolutionären Ambitionen von der politisch-ökonomischen Ebene auf das Individuum und die sozialen Strukturen. Emanzipation und Selbstverwirklichung wurden als die Vollendung bürgerlich-demokratischer Freiheit angepriesen; insofern besaß die Kulturrevolution eine politische Kohärenz. Vor dem „dionysischen Individualismus“ (Rolf Peter Sieferle), der sich etablierte, nahmen konservative Einwände sich spießig und reaktionär aus.

Was gegenwärtig stattfindet, läßt sich mit dem Begriff „Kultur“ (cultura: Bebauung, Bearbeitung, Bestellung, Pflege) kaum mehr verbinden. Auf der Plattform von Boris Reitschuster schrieb ein Gastautor: „Wo außerhalb einer Großraumpsychiatrie könnte ein Mann in Frauenkleidern über die Frauenquote (die an sich schon ein Skandal ist, da das Geschlecht über die persönliche Eignung gesetzt wird) in ein Parlament einziehen, dessen Mehrheit sich nicht etwa über diese Scharade empört, sondern jeden ausbuht und niederschreit, der es wagt, diesen offenkundigen Tatbestand zu thematisieren?“ So geschehen im Deutschen Bundestag, dem „Herz der Demokratie“!

Von „geistiger und moralischer Führung“ durch den politischen Hegemon kann keine Rede sein, vielmehr von raffinierter Repression. Es erscheinen Publikationen ohne Ende, die den Irrsinn präzise analysieren und widerlegen, doch richten sie gegen die mediale Übermacht wenig aus. Mit ständig verfeinerten Mitteln psychologischer Kriegsführung werden die instinktiven und kognitiven Widerstände unterminiert, so daß die Verrücktheiten im allgemeinen Bewußtsein zur anerkannten Wirklichkeit werden. In anderen Ländern regen sich immerhin starke Gegentendenzen. Giubilei zählt neben Italien auf: Frankreich, Spanien, Polen, Ungarn; Deutschland sei „eine Anomalie unter den großen europäischen Ländern“.

In der Bundesrepublik wird eine radikale Politik exekutiert, die an die Wurzeln der Lebenswelt geht. Die Kritik, um brauchbar zu sein, muß die giftigen Wurzeln dieser Politik freilegen, also gleichfalls radikal sein. Da ihre Ursprünge in einer linksideologischen Ideenwelt liegen, ist es nur natürlich, daß die Kritik vor allem von rechten und konservativen Positionen aus erfolgt. Die bundesdeutsche „Anomalie“ besteht darin, daß rechte und konservative Positionen als faschistisch und nazistisch tabuisiert sind.

Ein ehemaliger Kanzlerkandidat der Union meinte, „das Wichtigste“, was die CDU leisten müsse, sei der „Kampf gegen Rechts“. Der aktuelle Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz erregte sich 2000 im Parlament: „In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sitzen nicht die deutschen Konservativen, sondern die deutschen Christdemokraten (…) als Parteien der Mitte und nicht der Rechten.“ 2022 wiederholte er: „Wir sind nicht die deutschen Konservativen.“ Einer Bündnisstrategie nach italienischem Vorbild fehlt somit die Grundlage.

Dabei weisen Deutschland und Italien in der jüngeren Geschichte beträchtliche Gemeinsamkeiten auf. Beide sind spät geeinte Nationalstaaten, die im 20. Jahrhundert totalitäre beziehungsweise semitotalitäre Diktaturen erlebten. Sie waren Verbündete und Verlierer im Zweiten Weltkrieg. In den siebziger Jahren wurden sie vom Terrorismus erschüttert. Der entscheidende Unterschied: Italien gelang es im Juli 1943, seinen Diktator zu stürzen. Im September schloß die neue Regierung einen Waffenstillstand mit den Alliierten, gleichzeitig wurde ein Komitee der Nationalen Befreiung (ital. Abk. CLN) als antifaschistische Dachorganisation gebildet, in der Kommunisten, Sozialisten, Liberale, Monarchisten, sogar reuige Faschisten gegen die Deutschen kämpften.

Militärisch spielte die Partisanenbewegung im Norden keine große Rolle. Groß aber war ihre politische und moralische Bedeutung als nationaler Befreiungskampf gegen die deutsche Besatzung, der sich in den Kampf der Alliierten einfügte und diese zwang, den CLN als legitime Macht und Vertretung anzuerkennen. Die Debellatio, die völlige Vernichtung staatlicher Souveränität, blieb Italien erspart.

Der Kampf gegen den äußeren Feind stiftete innere Einheit und erlaubte der Nation die Aussöhnung mit sich selbst. In dem Film „Rom, offene Stadt“, den Roberto Rosselini bereits 1944/1945 drehte, gibt es eine ikonische Szene, in der der Kommunist Manfredi von der SS zu Tode gefoltert wird. Der vor ihm kniende Priester Don Pietro Pellegrini segnet den Sterbenden. Pellegrini wird gleichfalls getötet. Weil das italienische Hinrichtungskommando absichtlich danebenschießt, versetzt ein SS-Mann ihm einen Kopfschuß. Gemeinsam sterben der Kommunist und der Priester den Opfertod für Italiens Freiheit.

In den Filmen um Don Camillo, den Priester, und Peppone, den kommunistischen Bürgermeister, wird die Konstellation humoristisch fortgesponnen. Die zwei prügeln und umarmen sich, keiner kann und will ohne den anderen. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Palmiro Togliatti, verkündete 1946 als Justizminister eine weitreichende Amnestie für Faschisten.

In Deutschland gab es keine Selbstbefreiung vom NS-Regime. Es wurde besetzt, geteilt, seine Teile unter Vormundschaft gestellt. In der Folge wurde der begrenzte Bürgerkrieg der Weimarer Republik im Zeichen der Ost-West-Blockkonfrontation als deutsch-deutscher Staatenkrieg fortgesetzt. Anders als in Italien war der antifaschistische Gründungsmythos der DDR kein Angebot zur nationalen Inklusion, sondern ein Instrument des Klassenkampfes und die Revanche für die Niederlage der Kommunisten 1933. Gemäß der marxistisch-leninistischen Definition war der Faschismus die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Mit ihrer Enteignung im Osten war der Faschismus mit „der Wurzel ausgerottet“.

Die DDR erklärte sich mehr als zwei Jahrzehnte lang zur geläuterten Neubegründung der Nation, wo „die besten Traditionen des deutschen Volkes“ fortgesetzt wurden. Jeder Thälmann-Pionier kannte das Zitat des 1944 ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, der einem Mitgefangenen geschrieben hatte, er sei kein „weltflüchtiger Mensch. Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk, und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation, eine ritterliche, stolze und harte Nation“.

Diese Nation war jedoch, wie gesagt, eine exklusive Angelegenheit. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die sich in der Bundesrepublik konstituiert hatte, wurde als semi- oder neofaschistisch klassifiziert. Der westdeutsche Staat berief sich zunächst auf die Totalitarismus-Theorie, die der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher auf die griffige Formel brachte, Kommunisten seien „rotlackierte Faschisten“.

Die re-emigrierte Frankfurter Schule, die für die NS-Herrschaft einen sozialpsychologischen Erklärungsansatz favorisierte, drängte den Totalitarismus-Ansatz mehr und mehr zurück. Im Zentrum stand nun die Faschismus-affine, „autoritäre Persönlichkeit“, die vorzugsweise im rechten und konservativen Lager verortet wurde und darüber hinaus Ausdruck eines nationalen Ingeniums war. „Deutschlands Barbarei (ist) eine Seite seiner Kultur“, hieß es in einem im amerikanischen Exil verfaßten Konzeptpapier. Es entstand ein eigenständiger West-Antifaschismus, der sich mit der zivilreligiösen Ausdeutung des Holocaust vermengte. Deutschland schrumpfte zum unentrinnbaren Schuldzusammenhang, der als einzigen Ausweg die Auflösung der Nation im postnationalen Kontext zuließ. Es sollte sich zeigen, daß diese zivilreligiöse, hedonistisch unterlegte, sozialpsychologische Desintegration viel nachhaltiger wirkte als die Klassenkampf-Ideologie der SED. Der autoaggressive Antifaschismus wurde zur hegemonialen Kulturdoktrin der Bundesrepublik und machte auch die Union wehr- und geistlos.

Die Wiedervereinigung brachte keine innere Befriedung. Obwohl die versunkene DDR vor Augen geführt hatte, wieviel zerstörerisches und letztlich totalitäres Potential die Negativ-Fixierung auf das NS-System freisetzen konnte, wurde versäumt, den Antifaschismus als geheime Staatsideologie abzuräumen. Der wichtigste Kritikpunkt am DDR-Antifaschismus lautete lediglich, daß er den Holocaust nicht genügend berücksichtigt hatte. Die Linkspartei (damals noch SED-PDS) distanzierte sich flugs von seiner „stalinistischen“ Engführung. Sie trat dem Antifaschismus West bei und radikalisierte ihn weiter. Auch westliche Bundesländer finden inzwischen Geschmack an Antifa-Klauseln in der Verfassung. Die Tatsache, daß zahlreiche Bürger im Osten trotz bitterer Erfahrung den DDR-Antifaschismus rehabilitierten, erstaunt bloß auf den ersten Blick. Der antikapitalistisch aufmunitionierte Faschismus-Vorwurf war nach 1990 eines der wenigen Mittel, sich der ideologischen Übermacht des Westens zu erwehren und den „Wessis“ Nadelstiche zu versetzen – eine perverse Begleiterscheinung des verfehlten Einigungsprozesses.

In Italien zerfiel nach 1989 das alte Parteiensystem einschließlich der Kommunistischen Partei. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni betonte in ihrer ersten Regierungserklärung, sie lehne – „den Faschismus eingeschlossen“ – alle Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ab. In der Bundesrepublik hingegen ist der einseitig antifaschistische „Konsens der Demokraten“ intakt geblieben. Er hat zu einem völligen Realitätsverlust geführt, der sich zum selbstzerstörerischen Fanatismus steigert und mittlerweile totalitäre Züge aufweist. Die Einsicht in diese Ausgangslage muß am Anfang aller Versuche stehen, politisch zu denken und zu handeln.